Markus Söder gilt gemeinhin als Mann mit einem guten Instinkt. Er wittert Schwäche bei Feind wie Freund und weiß in der Regel gut einzuschätzen, wann es nötig sein kann, politisch eine Reißleine zu ziehen, wenn es dem eigenen Erfolg dient. Der bayerische Ministerpräsident kann inhaltlich schwanken, wie ein Schilfrohr im Wind, aber ein Gespür sprechen ihm selbst jene nicht ab, die immer schon gegen ihn waren.
Seit diesem Sonntag kann man sich allerdings fragen, wo dieses Gespür geblieben ist. Söder will Hubert Aiwanger im Amt lassen, trotz etlicher Vorwürfe, der Wirtschaftsminister von den Freien Wählern habe als Jugendlicher Judenwitze gemacht, Hitlergrüße gezeigt und ein antisemitisches Pamphlet in seinem Ranzen getragen. Manches spricht nun dafür, dass die Affäre, die als Flugblatt-Skandal ihren Anfang nahm, nun auch Söder selbst erwischen kann.
Aiwangers Krisenmanagement – ein abenteuerliches Hin und Her
Damit keine Missverständnisse entstehen: Man kann darüber streiten, ob das Pamphlet, das Aiwangers Bruder geschrieben haben will, wirklich der richtige Grund gewesen wäre, den Minister zu feuern. Natürlich lässt sich auch darüber diskutieren, wie viel eigentlich Verfehlungen, die Jahrzehnte zurückliegen, darüber aussagen, ob man heute als Politiker taugt. Und es war vernünftig von Markus Söder, seinen Wirtschaftsminister nicht vorschnell entlassen zu haben, sondern sich selbst erstmal ein Bild zu machen.
Was Söder aber seit Tagen hätte sehen können, ist, welch abenteuerliches Krisenmanagement Aiwanger fährt. Erst wollte Aiwanger nichts dazu sagen, dann konnte er sich an praktisch nichts erinnern, dann entschuldigte er sich ein bisschen, nur um sich jetzt, nach einer Vielzahl von neuen Vorwürfen, zum Opfer einer Kampagne zu stilisieren.
Fast meint man, Francesco Schettino vor sich zu haben, den Kapitän der "Costa Concordia", der sein Kreuzfahrtschiff 2012 mit einem waghalsigen Manöver an die Küste einer Mittelmeerinsel setzte und die Verantwortung für die Katastrophe später einem anderen Offizier in die Schuhe schieben wollte. Nur dass es eben nicht um eine Klippe in Italien geht, sondern um den Felsen der deutschen Geschichte. Wer mit dem zusammenstößt, aber nicht den Mut hat, zu erläutern, wie der Unfall zustande kam, sollte als Repräsentant Bayerns eigentlich erledigt sein.
Das Schicksal von Söder und Aiwanger ist nun noch enger verwoben
Söders Kalkül scheint zu sein, den Koalitionsfrieden mit den Freien Wählern zu wahren, um halbwegs geordnet Richtung Landtagswahl zu kommen, die in vier Wochen stattfindet. Aber es könnte, wenn es schlecht läuft, auch das Gegenteil eintreten. Nur weil Söder die Causa für beendet erklärt, hören frühere Mitschüler und Lehrer ja nicht auf zu reden. Und was passiert eigentlich, wenn bald die nächsten Vorwürfe im Raum stehen?
Die Entscheidung vom Sonntag wirkt so, als würde Söder für Aiwanger bürgen. Jeder neue Vorwurf dürfte neben Aiwanger den Ministerpräsidenten gleich mit in Erklärungsnot rücken, was die Affäre für Söders politische Gegner umso reizvoller macht.
Zudem muss sich Söder fragen, ob er eigene Fehler gemacht hat. Aiwanger beteuert in den Antworten auf die 25 Fragen, die Söder ihm stellte, der Flugblatt-Vorfall habe bei ihm damals einen gedanklichen Prozess in Gang gesetzt, wobei er sich an den Vorfall selbst im Großen und Ganzen gar nicht erinnern kann. Wenn es einen Beleg für die Unglaubwürdigkeit Aiwangers gibt, dann findet er sich ausgerechnet in den Antworten auf jene Fragen, mit denen Söder die Sache eigentlich aufklären wollte.
Ruhe dürfte bis zum Wahltag jedenfalls nicht ansatzweise einkehren. Söders politische Gegner, denen seit Jahren nichts gegen die CSU-Dominanz einfällt, laben sich längst an der Affäre. Und Aiwanger weiß jetzt, dass er von seinem Chef nichts mehr zu befürchten hat.
Seine Strategie, die eigenen Verfehlungen einfach in eine Kampagne vermeintlicher Denunzianten umzudeuten, hat sich ausgezahlt. Er dürfte dieses Gefühl im Wahlkampf weiter auf höchst unappetitliche Art und Weise vermarkten.
Söder, dem nachgesagt wird, er habe immer noch das Kanzleramt im Blick, wollte mit seiner tagelangen Abwägung zeigen, wie gut und besonnen er führen kann. In Wahrheit ist seine Entscheidung eine der Angst, gegründet auf die Sorge, von Aiwanger und seinen Leuten selbst zum Denunzianten erklärt zu werden, sollte er den Wirtschaftsminister fallen lassen. Statt Stärke zu zeigen, hat der Ministerpräsident damit seine Schwäche offengelegt.
Gut vier Wochen vor der Landtagswahl ist das brandgefährlich.