An einer Grundschule in Berlin-Tempelhof ist es offenbar wiederholt zu religiöser Diskriminierung gekommen. Dort soll eine jüdische Zweitklässlerin von muslimischen Mitschülern mit dem Tode bedroht worden sein, weil sie nicht an Allah glaubt. Ein besorgniserregender Vorfall, der exemplarisch für zunehmende Alltagsdiskriminierung an deutschen Schulen steht. Der stern sprach mit Lamya Kaddor über das Thema. Kaddor ist Pädagogin, Autorin und Islamwissenschaftlerin. Sie hat klare Vorstellungen, wie man die Probleme angeht.
stern: Frau Kaddor, wie sollte die Politik auf Drohungen und Gewalt reagieren?
Ich glaube tatsächlich, dass unsere Lehrerschaft im Umgang mit Diversität noch zu wenig sensibilisiert ist. Es gibt dafür kaum Platz in der Lehrerausbildung: Ich kann schwer von Lehrern erwarten, dass sie den Umgang mit Diversität vermitteln, wenn sie ihn selber nicht erlernt haben. Deshalb muss so etwas bereits in der Lehrerausbildung implementiert werden. Und zwar durch Anordnung von ganz oben.

Lamya Kaddor
Lamya Kaddor wurde als Kind syrischer Einwanderer in Ahlen geboren. Nach ihrem Magisterstudium in Münster bildete sie islamische Religionslehrer aus und dozierte deutschlandweit. Lamya Kaddor setzt sich für ein progressives Islamverständnis ein und vermittelt zwischen liberalem und traditionellem Islam. Sie ist erfolgreiche Buchautorin und wurde mit der Integrationsmedaille der Bundesregierung ausgezeichnet. Nachdem sie Morddrohungen erhalten hatte, ließ sie sich von ihrer Stelle als islamische Religionslehrerin in Dinslaken beurlauben.
Ein verpflichtender Elternabend, wie ihn Cem Özdemir fordert, ist gut, wäre aber aus meiner Sicht zu wenig. Ich kann aus der Praxis sagen: Die Eltern nicken einmal freundlich, das Problem wird aber nicht sonderlich ernst genommen. Deshalb finde ich es sinnvoller, bei der Anmeldung des Schulkindes die Eltern unterschreiben zu lassen, dass die Schulordnung gelesen wurde. Darin müsste stehen, dass jegliche Diskriminierung von Minderheiten sanktioniert wird. Möglich wäre Nachsitzen, eine Beurlaubung oder ein Schulverweis. Dabei darf es keinen Unterschied machen, ob ich zu einem Mitschüler "Scheiß Jude" oder "Scheiß Muslim" sage.

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Sie möchten Erziehungsberechtigte stärker in die Verantwortung nehmen. Wie?
Auch Eltern müssen dahingehend erzogen werden, dass solches Verhalten durchaus schwerwiegende Folgen haben kann. Anders schafft man es nicht Kinder und selbst manche Eltern zu erziehen. Diese Etikette sollte nicht die Schule selbst festlegen, sondern eben die Schulministerien. Es kommt nämlich vor, dass Schüler zwar einen Verweis erhalten, die Umstände und Motive der Tat aber verschwiegen werden. Schulen tun sich oft schwer damit: aus Angst vor Rufschädigung und öffentlicher Skandalisierung. Deshalb muss das Meldesystem vereinheitlicht werden.
Jeder Schule muss klar sein, dass Diskriminierung keinen Platz haben darf. Das kostet natürlich mehr Arbeit, Zeit und Ausbildung. Wir müssen uns auf die Realität der Einwanderungsgesellschaft besser vorbereiten. Die Schulen müssen sensibler werden für solche Vorfälle, auch wenn es Mehraufwand bedeutet.
Ohne die Bekanntmachung der Eltern wäre der aktuelle Fall in Berlin-Tempelhof nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Wieso mauern Schulen und Ämter, wenn Kinder bedroht werden?
Diese Frage ist leicht zu beantworten, wenn man jahrelang im Schulbetrieb gearbeitet hat: Die Schulleitung fürchtet um ihr Image. Eine Schule, an der es antisemitische Vorfälle gegeben hat, wird von verantwortungsvollen Eltern gemieden. Besonders gegenüber politisch bewussten Eltern kommt die Schulleitung in Erklärungsnöte. Schulen möchten sich als offen und tolerant präsentieren können.
Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass in solchen Fällen gemauert wird. Deshalb wiederhole ich mich: Wir sollten es nicht den Schulen überlassen, Diskriminierung zu erfassen und zu ahnden. Der verpflichtende Erlass muss von oben kommen, damit sich die Schulleitungen nicht herausreden können.
Es sind übrigens nicht nur Schulen betroffen, die von der vermeintlichen "Unterschicht" besucht werden, sondern auch Eliteschulen. Auch dort gibt es Hass auf Minderheiten, das ist kein Phänomen bestimmter Schichten. Vorurteile und Diskriminierung gegen Juden, Muslime, Homosexuelle und Sinti und Roma existieren überall.
Häufig wechseln die bedrohten Kinder die Schule, nicht die Täter. Ist das nicht ungerecht?
Ich kann den Schulwechsel der Opfer gut nachvollziehen. Auch aus Sicht der Eltern. Die Diskriminierung kann schwerwiegende psychische Folgeprobleme auslösen, sodass ein Besuch der alten Schule nicht mehr möglich ist. Selbstverständlich müsste aber ein Täter als Strafmaßnahme auch die Schule wechseln. Wenn das in bestimmten Schulen nicht vorgekommen ist, finde ich das skandalös.
Der Islam galt jahrhundertelang als tolerant gegenüber dem Judentum. Woher stammt die neuerliche Ablehnung?
Der Islam hat normal mit dem Judentum zusammengelebt. Lange, lange, lange Zeit. Es gab auch Pogrome, aber bei weitem nicht so, wie wir sie aus Europa kennen. Der Antisemitismus ist zutiefst europäisch und nicht neu. Im Nahostkonflikt wurde er adaptiert und der Islamismus hat ihn dankbar übernommen. Deshalb sprechen wir vom reimportierten Antisemitismus. Der Islam an sich ist nicht antisemitisch, so wie man das heute denken könnte. Dass Antisemitismus unter Muslimen dennoch weit verbreitet ist liegt vor allem am Nahostkonflikt, der jahrzehntelang ein Hauptpropagandamittel der islamistischen Ideologie war. Diese feindliche Haltung ist in Teilen bis an die Basis "normaler" Muslime durchgesickert. Juden müssen vielfach als Sündenbock für Missstände im Leben von Muslimen herhalten.
Richten sich die Attacken nur gegen Juden, oder auch Angehörige anderer Religionen?
In den Schulen existieren auch alle anderen Formen von gruppenspezifischer Fremdenfeindlichkeit, beispielsweise Homophobie, Antiziganismus etc. Hierbei herrschen ganz ähnliche Vorurteile, die ebenso erschreckend und entsetzlich sind. Auch die Islamfeindlichkeit wird von vielen Schulen totgeschwiegen. Es ist festzustellen, dass unsere Einwanderungsgesellschaft zunehmend diverser wird. Das bedeutet auch mehr Meinungen, mehr Positionen. Da wir in einem Rechtsstaat leben, haben alle diese Meinungen eine Berechtigung - sonst wären wir keine Demokratie. Viele unterschiedliche Gruppen bedeuten für manche eine Überforderung. Dem begegnen sie mit Vereinfachung: Nur eine Meinung kann richtig sein, nämlich die der eigenen Gruppe. Deshalb tun wir uns so schwer damit, Minderheiten gerecht zu behandeln.