Man kann gut verstehen, weshalb SPD-Chef Sigmar Gabriel mit glückfrohem Gesicht dem neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck applaudierte. Wie hätte es auch anders sein können - nach einer Antrittsrede, die den ganzen Bundestag überzeugte: Selbst die Fraktion der Linkspartei dankte Gauck mit stehendem Beifall.
Es hatte im Vorfeld ja etliche Bedenken gegeben. Würde dieser Präsident als Prediger mit "kaltem Herzen" auftreten, als radikaler Apostel der Freiheit, der die Abgehängten, die Verlierer und die Verunsicherten nur noch weiter verängstigt? Kein Ton deutete in diese Richtung. Im Gegenteil. Gauck verknüpfte praktisch vom ersten Satz an seinen Freiheitsbegriff mit dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit. Er zeigte sich als Präsident, der die Bürger nicht einschüchtern, sondern ermutigen will. Der für Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und die demokratische Gesellschaft wirbt.
Offene Arme für Migranten
Der elfte Bundespräsident will offenbar noch mehr als seine Vorgänger Menschenfischer einer Bürgergesellschaft sein, die auf ihre Kraft baut und an die Zukunftschancen ihrer Kinder und Enkelkinder glaubt. Und dies in einer Tonlage, die ihre pastorale Herkunft nicht leugnen will, aber zu den Problemen dieser Gesellschaft den Klartext nicht scheut.
Gauck bekannte sich eindeutig zum Prinzip des Sozialstaats, zum Engagement der Gewerkschaft, deren Arbeit nicht genügend geschätzt werde. Unmissverständlich, wie er die Gerechtigkeit betonte, wie er appellierte, die Probleme der Migranten und Mitbürger islamischen Glaubens nicht mit feindlichen Gefühlen zu beantworten und wie er für die Einbettung der deutschen Politik in mehr Europa warb. Das war so nicht unbedingt zu erwarten.
Würdigung der 68er
Seinen eigenen, bemerkenswert persönlichen Akzent setzte Gauck bei der Wertschätzung, die er der 68er-Generation zuteil werden ließ. Sie erst habe die deutsche Demokratie von den Nachwehen der NS-Diktatur befreit. So fair sind viele Politiker, die heute das Sagen haben, bislang nicht mit dieser Phase der Nachkriegsgeschichte umgegangen. Das nährt die Hoffnung, dass sich Gauck auch künftig nicht hinter der Gestik präsidialer Zurückhaltung verstecken, sondern kritische Worte und Denkanstöße wagen wird. So wie er sie schon jetzt auch beim Blick auf den Rechtsextremismus gefunden hat. "Euer Hass ist unser Ansporn" - einen solchen Satz hätte man gerne auch von seinen Amtsvorgängern gehört, wenn sie die politische Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik zu analysieren versuchten und dabei stets nur radikale Linksaußen entdeckten.
Nach dieser Rede des neuen Präsidenten darf als gesichert gelten, dass Gauck die Probleme Deutschlands nicht mit einem so schonenden Blick zur Kenntnis nehmen wird, wie dies in den vergangenen Jahrzehnten leider viel zu oft der Fall war. Man darf zu Recht noch weitere zeitgeschichtliche, sozialpolitische, außenpolitische und parteipolitische Lektionen von diesem Mann erwarten. Im Katalog seiner künftigen Themen dürften ganz gewiss noch mehr Äußerungen enthalten sein, die nicht alle gerne hören werden, die ihn jetzt mit so glücklichen Gesichtern gewählt haben. Die Mehrheitsmeinung bedeutet ihm wenig bis nichts, seine eigene Glaubwürdigkeit ist ihm glücklicherweise wichtiger. Gauck sagt nicht nur, es sei möglich, den Mut zu wählen, dieser Mann hat ihn bereits gewählt.