Jung und die Afghanistan-Affäre Die Schönredner vom Bendlerblock

Ein Kommentar von Christoph Reuter, Kabul
Dass Franz Josef Jung die zivilen Opfer des Angriffs bei Kundus nicht wahrhaben wollte, ist ein Skandal, aber typisch. Das Verteidigungsministerium hat schon oft Ermittlungen der Nato ignoriert.

Man reibt sich die Augen: Der Generalinspekteur der Bundeswehr und ein Staatssekretär des Verteidigungsministeriums treten zurück. Ihr Ministerium soll Informationen über zivile Opfer des Bombardements vom 4. September zurückgehalten haben. Nicht, dass etwas daran falsch wäre, wenn jemand mal Verantwortung für das Beharren auf offenkundige Lügen übernimmt, die vom Verteidigungsministerium verbreitet wurden.

Längst bekannte Wahrheiten

Aber für wie blöd hält sich eigentlich ein Verteidigungsministerium, wenn es erst jetzt zugeben mag, von zivilen Opfern gewusst zu haben - nachdem bereits am 4. September der Isaf-Sprecher und kanadische Brigadegeneral Eric Tremblay aussagte, in den lokalen Krankenhäusern würden viele zivile Opfer behandelt? Nachdem in den Tagen nach dem Bombardement ausführliche Fallschilderungen in der "Washington Post", im stern, im "Spiegel", im "Guardian" erschienen, bereits am 4. September Reporter der Nachrichtenagentur 13 Verletzte im Zentralkrankenhaus von Kunduz sahen, darunter drei Kinder? Nachdem in der "Washington Post" der zehnjährige Schwerverwundete Mohammed Shafiuallah interviewt wurde und im stern der kurz darauf verstorbene Rahmatullah? Nachdem der "Guardian"-Reporter Ghaith Abdul-Ahad in den Dörfern rund um den Ort des Bombardements mit Dutzenden Verwandten von Opfern sprach, deren Gräber und Fotos er sah?

Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung beharrte noch am 7. September darauf, es seien ausschließlich 56 Taliban getötet worden. Das sei ihm von afghanischer Seite so übermittelt worden. Und sein Sprecher Thomas Raabe sekundierte, zu zivilen Opfern lägen keine konsolidierten Erkenntnisse vor. Dass die Quelle des Ministers ausgerechnet der Gouverneur von Kunduz war, dessen Absetzung wegen Verwicklung in den Drogenhandel und Taliban-Kontakten die Deutschen seit Jahren betrieben haben, dürfte man ihm vermutlich auch mitgeteilt haben. Für den Gouverneur war es die perfekte Gelegenheit gewesen, bei der Bundeswehr in Kunduz zu punkten – und für Jung die perfekte Quelle, an der Unwahrheit festzuhalten.

Phantasiereiche Umdeutungen

Das eigentlich erschütternde an diesem verspäteten Skandal ist, dass man sich an ihn schon längst gewöhnt hat. Dass es einen überhaupt nicht mehr verwundert, wenn Jung und sein Sprecher Raabe lieber den Rest der Nato und sämtliche Ermittlungen und Recherchen ignorierten, als von einer falschen Behauptung abzurücken. Bis Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst eingriff und Jungs Märchenstunde ein Ende bereitete. Auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat sich nicht mit Ruhm bekleckert, wenn ihm zum jetzigen Skandal nur einfällt: "Die jüngsten Enthüllungen werfen ein neues Licht auf die Ereignisse in Kunduz." Auf die Ereignisse sicher nicht, da war alles bekannt, es wollten nur viele nicht hören.

Jungs Presseabteilung unter Leitung von Thomas Raabe war auch schon vorher dafür bekannt, gern Versionen von Fehlern zu verbreiten, die bestenfalls als Halbwahrheiten gelten könnten: Als etwa im September 2008 ein deutscher MG-Schütze eine Mutter und zwei ihrer Kinder in einem davonfahrenden Fahrzeug erschoss und den Fahrer schwer verletzte, stand in der Pressemitteilung, das Fahrzeug habe "nicht vorschriftsmäßig gehalten". Das ist nicht falsch, aber impliziert, der Fahrer sei wie ein Selbstmordattentäter auf den Checkpoint zugerast. Genau das aber hatte er nicht getan, sondern hatte wie das vor ihm in der Dunkelheit wendende Fahrzeug ebenfalls umgedreht. Um dann von hinten beschossen zu werden. Überdies gab der Fahrer des beschossenen Fahrzeuges an, von afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr bedrängt worden zu sein, seine Aussage zu ändern: dass nur afghanische Polizisten, aber keine deutschen Soldaten geschossen hätten.

Es ist mit der Zeit zum gängigen Verlaufsmuster geworden: Etwas beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan geht schief – aber ein richtiges Desaster wurde daraus, wenn Verteidigungsminister Jung und sein Sprecher Raabe ihre phantasiereichen Umdeutungen verbreiten. Das konnte man beklagen, belegen - und nichts geschah. Dass es jetzt geschieht, ist gut. Dass es erst jetzt geschieht - auch ein Skandal.

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