Mal angenommen, Bundespräsident Christian Wulff träte zurück. Er ist jetzt, nach einer bemerkenswerten politischen Karriere, 52 Jahre alt, hat eine ambitionierte, schöne Frau, zwei Kinder. Was sollte Wulff nach seinem Rücktritt tun? Welche Firma, welche Partei wollte ihn beschäftigen? Er könnte sich damit begnügen, seinen Ehrensold zu verfrühstücken, hätte dann aber sofort die nächste Debatte am Hals. Denn es würde aussehen wie die Krönung einer Schnäppchenjägerkarriere. Vorruhestand plus Büro plus Mitarbeiter plus Karosse plus Fahrer. Alles auf Staatskosten. Na, herzlichen Glückwunsch! Bekäme er den Ehrensold nicht, was Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim für angebracht hält, wäre er vorerst mittellos.*
Anders gesagt: Es gibt für Wulff keine biografische, das Gesicht wahrende Alternative zu Schloss Bellevue. Er ist im Amt und er muss aus seiner Perspektive im Amt bleiben, weil danach nichts mehr kommen kann. Außer dem Leben eines Politparias.
Das ist die persönliche Dimension der Affäre Wulff.
Mal angenommen, Kanzlerin Angela Merkel würde mithelfen, Wulff aus dem Amt zu befördern. Es wäre das Eingeständnis, den falschen Mann ins Bundespräsidialamt gehievt zu haben - gegen den Widerstand der Bürger, die Joachim Gauck bevorzugt hätten. Die Suche nach einem Nachfolger für Wulff wäre politisch nicht weniger heikel. Nach dem aktuellen Stand haben CDU und FDP in der Bundesversammlung nur eine winzige Mehrheit von sechs Stimmen. Darauf kann sich Merkel nicht verlassen. Also müsste sie sich gemeinsam mit der Opposition auf einen Kandidaten festlegen. Der neue Mann, respektive die neue Frau, würde auf eine großkoalitionäre Zukunft deuten. Schwarz-Gelb wäre symbolisch noch vor Ablauf der Legislaturperiode beerdigt.
Anders gesagt: Die Kanzlerin kann in der derzeitigen Lage kein Interesse daran haben, Wulff auszuwechseln. Zumal sein Verbleib im Amt sogar positive Effekte für Merkel hat. Die Umfragen zeigen es: Je tiefer Wulff im Morast seiner Affären versinkt, desto heller strahlt die Tugendhaftigkeit der Kanzlerin. Von ihr glaubt niemand, dass sie ihre Autorität für ein Bobbycar verscherbeln würde. Außerdem kann sie mit einem angeschlagenen Präsidenten besser leben als mit einer neuen, kraftvollen Autorität, die ihr öffentlichkeitswirksam in die Parade fährt.
Der schwarze-Koffer-Style
Diese strategischen Überlegungen konstruieren das politische Kraftfeld, das Wulff im Amt hält. Die Bundestagsfraktionen von FDP und CDU spielen zerknirscht mit, Wulff ist auch für die Abgeordneten ein Reizwort geworden, aber sie halten öffentlich still. Nur in den Ländern sind Absetzbewegungen und Kritik zu beobachten, vor allem in jenen, denen eine Wahl bevorsteht: Saarland, Schleswig-Holstein, Niedersachsen. Zum Teil wird die Wulff-Affäre dort schon jetzt instrumentalisiert: Als Grund für die eigene, absehbare Wahlniederlage, Wolfgang Kubicki, Schleswig-Holsteins FDP-Fraktionschef, lässt grüßen. Die Opposition kann diesem Treiben nur ohnmächtig zusehen. Für ein Amtsenthebungsverfahren bräuchte sie eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, und die ist nicht herstellbar. Was soll sie tun? Täglich den Rücktritt fordern, ohne dass etwas passiert?
Das ist die im engeren Sinne politische Dimension des Fall Wulffs.
Es gibt natürlich noch eine moralisch-sittliche.
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat schon Recht, wenn er sagt: "Das Urteil über Wulff ist längst gesprochen." Gut möglich, dass ihm noch der fünfte Privatkredit, der zehnte Gratisurlaub, das zwanzigste Geschenk einer Privatfirma nachgewiesen wird. Aber das ändert nicht das Bild dieses Mannes, es ergänzt und vervollständigt es nur. Zu sehen ist ein Schnäppchenjäger, der sich im Amt Vergünstigungen zuschieben ließ, um ein bisschen Luxus hier, ein bisschen Glamour dort zu genießen. Zu beobachten ist auch, dass sich Wulff politisch im Sinne seine Gönner engagierte. Für die Filmwirtschaft, die sein Buddy David Groenewold verkörperte. Für die Versicherungswirtschaft, für die Talanx-Chef Wolf-Dieter Baumgartl steht. Völlig unbestritten zudem, dass Wulff glaubte, etwas verbergen zu müssen, andernfalls hätte er seine "Fehler" nicht nur auf Druck und scheibchenweise bestätigt. Und nicht Ausflüchte benutzt, von denen der Staatsrechtler Hans-Herbert von Arnim zu Recht sagt, sie würden den gesunden Menschenverstand beleidigen. Wulff hat also seine Sylturlaube immer cash nachgezahlt? 1500 Euro aus der Hosentasche an Groenewold? Hey, das ist richtig 80er-Jahre-schwarze-Koffer-Style.
Präsident der Politikverdrossenheit
Die große Mehrheit der Deutschen hält Wulff inzwischen für nicht ehrlich. Die große Mehrheit der Deutschen hält Wulff inzwischen für unwürdig, das Amt des Bundespräsidenten zu bekleiden. Aber nur eine knappe Mehrheit will seinen Rücktritt. Dass die Umfragewerte nicht noch viel schlechter für Wulff ausfallen, zeigt die alltägliche Schizophrenie, in der wir leben. Ein jeder jagt Schnäppchen, ein jeder sucht seinen Vorteil. Aber ein jeder tritt mit dröhnender Empörung auf, wenn ihm der Arzt eine überflüssige, teure Privatleistung angedreht hat. Wulff ist ein Abbild dieser schnöden Ego-Gesellschaft, er ist einer von uns. Deswegen genießt er Nachsicht, mitunter sogar Solidarität, die sich in Empörung auf die vermeintlich so unbarmherzige Scharfrichterei der Medien entlädt. Aber: Muss nicht gerade der Bundespräsident über der Ego-Gesellschaft stehen? Sollte er nicht ein leuchtendes Beispiel für Gemeinsinn sein? Wer die Politik schon immer für einen liederlichen Selbstbedienungsladen gehalten hat, darf sich durch Wulff bestätigt fühlen. Er ist nicht der Präsident des Gemeinsinns. Er ist der Präsident der Politikverdrossenheit.
Das spüren in diesen Tagen vor allem Beamte - und es illustriert die juristische Dimension des Falles. Für Beamte gelten sehr scharfe Antikorruptionsgesetze, in Niedersachsen müssen sie selbst den "Anschein" von Bestechung vermeiden, jedes Geschenk, das mehr wert ist als zehn Euro, müssen sie abliefern. Tun sie es nicht, drohen ihnen Disziplinarverfahren, Verlust des Beamtenstatus, Aberkennung der Pensionsansprüche. Und das steht nicht nur so auf dem Papier. Jährlich werden Hunderte Verfahren gegen Beamte geführt. An diesem Maßstab gemessen wäre Wulff längst ein Fall für die Justiz. Aber für ihn gelten andere Gesetze, es gibt ein Zweiklassensystem, das den Großverdienern der Politik, einem niedersächsischen Ministerpräsidenten und seinen Ministern, mehr Spielräume gestattet. Diese krasse Ungerechtigkeit führt dazu, dass gegen Wulffs ehemaligen Sprecher Olaf Glaeseker ermittelt wird, gegen seinen Dienstherren aber nicht. Das lässt sich erklären, rechtfertigen lässt es sich nicht.
Die juristische Achillesferse
Wulff hat ein dickes Fell und er trägt einen politischen Schutzpanzer darüber, nur die juristische Achillesferse liegt offen. Nehmen die Staatsanwaltschaften Ermittlungen auf, wird das Schloss Bellevue unter Polizeischutz durchsucht, ist Wulff nicht mehr zu halten. Kann er es verhindern, weiß immer noch keiner, wie er jemals wieder Vertrauen gewinnen soll. Eigentlich hat Deutschland schon jetzt keinen Bundespräsidenten Christian Wulff mehr.
*Dieser Satz war in der Erstfassung des Textes nicht zu lesen. Ein aufmerksamer Leser wies darauf hin, dass die Frage des Ehrensolds strittig diskutiert wird. Red.