Der Himmel über Berlin ist grau, es windet, der Grandezza von Schloss Bellevue kann das normalerweise nichts anhaben. Hier residiert der Bundespräsident, hier parkt seine Karosse mit dem Nummernschild "0-1", vor der Terrasse erstreckt sich ein wunderschöner Park bis an das Spreeufer. Alles strahlt jene gesetzte Würde aus, die ein demokratischer Ersatzkönig haben sollte. Aber an diesem Donnerstag ist nichts normal. Christian Wulff gibt den traditionellen Neujahrsempfang. Der Wind pfeift, politisch gesehen, durchs Dach, und zwar immer heftiger. Der Bundespräsident fröstelt.
Edda Müller, Chefin von Transparency International, hat die Einladung zum Neujahrsempfang demonstrativ abgesagt. "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Der Bundespräsident hat vor über zehn Millionen Bürgerinnen und Bürgern Transparenz und vollständige Aufklärung versprochen. Dies hat er nicht eingehalten." Noch deutlicher wird Michael Konken, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes (DJV). Auch er hätte kommen sollen, auch er boykottiert den Empfang. Er begründet das mit der "Desinformationspolitik des deutschen Staatsoberhaupts". Das kann Wulff nicht gefallen, noch weniger dürfte ihm gefallen, dass selbst seine eigenen Parteifreunde die Lage nicht anders sehen.
Gauck? Töpfer? Steinmeier???
Nach dem wochenlangen Pingpong aus Fragen, Skandalschnipseln, Ausreden und Halbwahrheiten kippt die Stimmung in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion "dramatisch", schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Ein Ausdruck dessen war der Tweet, den der Parlamentarische Geschäftsführer Peter Altmaier in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch absetzte: "Wünsche mir, dass Christian seine Anwälte an die Leine legt und Fragen/Antworten ins Netz stellt." Ausgerechnet Altmaier, der über Wochen hinweg Wulff verteidigt hatte. Nun wirft er keine Solidaritätsadressen mehr ab, sondern schrumpft den Präsidenten zum "Christian" und setzt ihn kühl unter Druck. Wenige Stunden später zeigt die Kanzlerin, dass sie Altmaiers Forderung nicht abwegig findet. Am Rande einer Pressekonferenz sagt sie, Wulff würde antworten, wenn neue Fragen aufkämen. Andere haben keine Lust, sich das unwürdige Spektakel noch länger anzusehen. Der Abgeordnete Karl-Georg Wellmann aus Steglitz-Zehlendorf, Fachgebiet Außenpolitik, sagt dem ZDF, ein Ende mit Schrecken wäre besser als ein Schrecken ohne Ende. Er ist der erste aus der Unionsfraktion, der offen über einen Rücktritt spricht.
Schon flirren die Namen möglicher Nachfolger durch die Medien. Die "Frankfurter Allgemeine" nennt Verteidigungsminister Thomas de Mazière (CDU), einen Mann, der aktuell Hochkonjunktur hat, weil er bisher jedes Amt diszipliniert, seriös und skandalfrei gemanagt hat. Der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) ist wieder im Gespräch, er steht schon länger auf der Kandidatenliste, weil er als unabhängiger Kopf auch Sympathien bei Grünen und SPD genießt. Joachim Gauck, Ex-Stasi-Beauftragter konservativ-liberalen Zuschnitts, war bereits Gegenkandidat von Wulff und könnte nach Ansicht der Sozialdemokraten nochmals in Rennen gehen. Die "Bild", offenbar im Glauben, sie sei schon der oberste Präsidentenmacher, schlägt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier vor. Dies ist der bizarrste aller Vorschläge, denn die Gefolgsleute von CDU und FDP würden sich in der Bundesversammlung lieber die Hand abhacken, als für den Sozi Steinmeier zu stimmen.
Augen zu und durch
Die Laune von Volker Kauder, Chef der Unionsfraktion, ist dem Vernehmen nach auf dem Nullpunkt. Nicht nur, weil sich die Debatte schon so weit gedreht hat, sondern auch, weil nun seine eigenen Leute mitdrehen, vor allem Altmaier. Hilfreich ist das aus seiner Perspektive nicht. Da sich Wulff entschlossen hat, im Amt zu bleiben, und ihn juristisch niemand zum Rücktritt zwingen kann, heißt die offizielle Devise: Augen zu und durch. So sieht es auch das Kanzleramt: Falls nicht noch eine substanzielle Enthüllung komme, werde Wulff weitermachen können. Merkel weiß, wie schmerzfrei der Mann aus Osnabrück sein kann. Er hatte in vertraulichen Runden gerne über sie gelästert, ließ sich aber ebenso gerne von ihr zum Präsidenten küren.
Was nicht heißt, dass sie besonders glücklich wäre über seinen Umgang mit den Vorwürfen. Sie hatte ihn sofort nach der ersten Meldung über die Kreditgeschichte angerufen, da war er noch auf dem Rückweg vom Emir nach Deutschland. Alles kein Problem, versicherte der Präsident am Telefon. War es dann aber doch, vor allem, weil Wulff offenbar keine Lust hatte, zufrieden stellende Antworten auf offene Frage zu geben. Es musste ein weiteres Mal telefoniert werden, bis er seine erste dürre Erklärung im Schloss Bellevue abgab und das TV-Interview absolvierte. Frei nach dem Motto: Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Doch auch das nützte wenig. Das größte Problem des Präsidenten ist aus Merkels Sicht, dass er mit jeder Antwort, die er bisher gab, immer mehr neue Fragen provozierte.
Causa Wulff, Causa Merkel
Ihn deswegen aktiv zum Rücktritt zu drängen, entspräche nicht Merkels Stil. Gerät einer aus ihrer Truppe in die Schusslinie, steht sie nach außen hinter dem Attackierten. Das war bei Verteidigungsminister Franz Josef Jung so, das war auch beim falschen Doktor Karl-Theodor zu Guttenberg so. Merkel will sich nicht nachsagen lassen, sie lasse jemanden fallen. Das gilt allerdings nur so lange ihre Umfragewerte und die der Union stabil bleiben. Droht aus der Causa Wulff eine Causa Merkel zu werden, werden die Karten neu gemischt. Da der Opposition es bisher nicht geglückt ist, genau diese Situation herbei zu führen, betrachtet die Kanzlerin die Geschichte noch relativ gelassen – und geht allenfalls im Selbstgespräch die Personaloptionen für Schloss Bellevue durch.

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Beim Neujahrsempfang stand sie arglos lächelnd neben Wulff. Auch wenn sie den kalten Wind gespürt haben mag.