1. Hat der Bundeskanzler die Unwahrheit gesagt?
Kommt darauf an, wen man fragt und in welchem Zusammenhang man den Abhörfall betrachtet. Schon davor wurde Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeworfen, "erkennbar die Unwahrheit" zu sagen. Thema: Taurus. Der Grünen-Abgeordnete Anton Hofreiter hält Scholz' Darstellung, wonach es Bundeswehr-Soldaten für die Bedienung des Taurus-Marschflugkörpers benötige, für "offensichtlich falsch".
Allerdings scheint es Scholz weniger um die Frage der Bedienbarkeit zu gehen, als um die – in seinen Augen – problematische Zielkontrolle des weitreichenden Waffensystems. Diese will der Kanzler offenbar nicht vollständig aus der Hand geben, weshalb er ein Mitwirken deutscher Streitkräfte für notwendig erachtet.
In der vertraulichen Telefonkonferenz hochrangiger Bundeswehr-Offiziere, die der russische Staatssender RT am Freitag öffentlich gemacht hat, wird auch darüber gesprochen, dass die Briten zum Einsatz ihrer an die Ukraine gelieferten Storm-Shadow-Marschflugkörper "ein paar Leute vor Ort" hätten. Nur wenige Tage zuvor hatte Kanzler Scholz sein "Nein" zur Taurus-Lieferung unter anderem damit begründet, dass das, "was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird", nicht in Deutschland gemacht werden könne. Scholz' Andeutung wurde von London zwar hart dementiert, unterstreicht aber seine Haltung, dass Deutschland "an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein" dürfe.
Die zeitliche Koinzidenz bietet Anlass für Spekulationen, wie derzeit vieles in der Lauschangriff-Affäre. Verteidigungsminister Boris Pistorius mahnt, dass man "Putin nicht auf den Leim" gehen solle, und nennt den Abhörfall "Teil des Informationskriegs", den der russische Präsident auch gegen Deutschland führe. Zwar stellen sich die Bundeswehr-Offiziere in dem Mitschnitt nicht ausdrücklich gegen Scholz' Argumentation, jedoch gehen Experten davon aus, dass der Taurus auch ohne deutsches Zutun gezielt gesteuert werden könnte.
2. Wie kam der Leak zustande?
Das werde jetzt "sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr zügig aufgeklärt", versprach Bundeskanzler Scholz in Rom am Rande seines Vatikan-Besuchs. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) hat Ermittlungen aufgenommen.
Die Telefonkonferenz der Bundeswehr-Offiziere wurde über das verschlüsselte Konferenz-Tool WebEx (siehe nächsten Punkt) gehalten. Allerdings soll sich ein Teilnehmer aus seinem Hotelzimmer in Singapur per Telefon zugeschaltet haben – dadurch könnte die Verschlüsselung womöglich aufgehoben gewesen sein. Spione könnten die Kommunikation dann beispielsweise mitgeschnitten haben, indem sie sich Zugang zum WLAN-Router des Hotels verschafften.
Der Militärgeheimdienst MAD geht laut "Spiegel"-Informationen der Spur nach, ob sich zu dem Gespräch noch eine weitere, unbekannte Person dazugeschaltet haben könnte. "Es gibt Anhaltspunkte, dass mit Blick auf die offensichtlich besprochenen Inhalte ein nicht ausreichend sicheres Kommunikationsmittel verwendet wurde", sagte eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Das zu klären sei "Gegenstand der Untersuchung". Eine weitere Möglichkeit wäre, dass der Teilnehmer in Singapur abgehört worden ist.

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3. Wie weit verbreitet ist das Konferenz-Tool WebEx?
Das Gespräch sollen Luftwaffen-Inspekteur Gerhartz und die drei weiteren Offiziere über die Plattform WebEx des US-Anbieters Cisco geführt haben – das Verteidigungsministerium hat dies allerdings noch nicht bestätigt. Verwunderlich wäre das nicht: Seit der Corona-Pandemie gehört die Videotelefonie-Plattform zum Standard-Repertoire in Ministerien, Regierung und auch der Bundeswehr.
"In der Pandemie haben wir uns angewöhnt, über Videotelefonie auch sensible Dinge zu besprechen", sagte der Cybersicherheitsexperte Thomas Rid dem "Spiegel". "Das betrifft alle, auch die Mitarbeiter von Behörden, Nachrichtendiensten und Streitkräften." Bei der Bundeswehr ist WebEx bis zur Geheimhaltungsstufe "Verschlusssache − Nur für den Dienstgebrauch" zugelassen.
WebEx bietet die Möglichkeit einer Ende-zu-Ende-verschlüsselten Kommunikation. Das bedeutet: Die Inhalte werden auf dem Endgerät verschlüsselt und erst auf dem anderen Endgerät wieder entschlüsselt. Auch der Anbieter selbst kann diese Inhalte nicht entschlüsseln.
4. Wer ist für den Schlamassel verantwortlich?
Der Leak betrifft den Bereich von Verteidigungsminister Pistorius. Und Scholz‘ Leute sind bemüht, die Verantwortung auch genau dort anzusiedeln. Das Ministerium sei "im Lead", heißt es, vor allem Pistorius müsse jetzt die Angelegenheit aufklären.
Der schaltete schon am Wochenende kommunikativ einen Gang hoch, stellte sich in seinem Haus vor die Kameras, umriss in wenigen Minuten recht klar, wie er nun zu verfahren gedenkt, lehnte personelle Konsequenzen fürs Erste ab, um Putin keinen Gefallen zu tun. Die Botschaft: Ich nehme die Sache ernst, stelle mich vor meine Generäle.
Tatsächlich ist der Fall für Scholz womöglich unangenehmer als für Pistorius, weil er sinnbildlich für die vielen aktuellen Probleme des Kanzlers steht. Mit Frankreich liegt er über Kreuz in der Frage, wie es in der Ukraine weitergehen soll. Seine Taurus-Entscheidung sorgt auch in seiner eigenen Partei für Unruhe. Alliierte sind sauer auf ihn, weil er öffentlich darauf hinwies, wie Briten und Franzosen mit der Schulung an ihren Marschflugkörpern umgehen. In der Sicherheitspolitik steht Scholz mit dem Rücken zur Wand, weniger der Verteidigungsminister.
5. Und wie geht es jetzt weiter?
Der Militärische Abschirmdienst (MAD) ermittelt. Verteidigungsminister Pistorius erklärte am Sonntag, er erwarte in den nächsten Tagen erste Erkenntnisse in der Sache. Unter anderem geht es um die Frage, ob es weitere Leaks gibt. Zum aktuellen Zeitpunkt habe man keine Erkenntnisse über weitere undichte Stellen, heißt es in der Bundesregierung.
Die andere Frage dreht sich um die Konsequenzen. Erst wenn man wisse, ob etwa gegen Sicherheitsbestimmungen verstoßen wurde, könne man darüber entscheiden, sagt Pistorius.
Dass es Konsequenzen aus dem Vorfall geben müsse, steht für den Vorsitzenden des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Bundestags, Konstantin von Notz (Grüne), fest: "Wir brauchen eine echte Zeitenwende – auch und gerade mit Blick auf den Eigenschutz aller sicherheitsrelevanten Kommunikationen unserer Sicherheitsbehörden und Verfassungsorgane."
Politiker der Opposition bringen zudem einen möglichen Untersuchungsausschuss ins Spiel. Der Bundeskanzler müsse sich vor dem Bundestag erklären, forderte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Dem "Spiegel" sagte er: "Bei dieser Sachlage kann ein Untersuchungsausschuss nicht ausgeschlossen werden."