Frau Kipping, Sie sind hochschwanger, bekommen bald Ihr erstes Kind. Wann ist es so weit?
Einen Monat nach unserem Programmparteitag, Ende November.
Interessante Formulierung.
Die Babypause fällt nun mal genau zwischen zwei Parteitage. Das habe ich zwar nicht geplant, aber es ist nicht schlecht.
Es ist noch immer die Ausnahme, dass Spitzenpolitikerinnen Kinder kriegen. Und jedes Mal ist der Wirbel groß: Erst Andrea Nahles, dann Kristina Schröder, jetzt Sie. Woran liegt das?
Es dominiert offenbar immer noch die klassische Vorstellung: Politik wird fernab der Familie in Berlin gemacht. Kleine Kinder sind in diesem Bild nicht vorgesehen, sie irritieren.
Die französische Ex-Ministerin Rachida Dati erschien fünf Tage nach der Geburt ihres Kindes auf Stöckelschuhen zur Kabinettssitzung.
So weit reicht mein Ehrgeiz nicht. Ich freue mich auf die Babypause.
2010 waren Sie schon mal schwanger, haben das Kind aber verloren. Anschließend haben Sie sich nur einen Tag frei genommen und sind wieder in den Bundestag gerannt. Typisch Politikerin?
So wie Sie das formulieren, entsteht ein verzerrtes Bild. Mir ist das passiert, was bei 30 Prozent aller Schwangerschaften passiert: Sie brechen in den ersten Wochen einfach ab. Bei mir war das am Montagmorgen einer Sitzungswoche des Bundestages. Mein Terminkalender war randvoll. Da ich keine körperlichen Schmerzen hatte, bin ich pflichtbewusst ins Büro gegangen. Ich dachte: Das schaffst du.
Und, haben Sie es geschafft?
Am Abend bin ich ins Kino gegangen, habe "Nowhere Boy" gesehen – ein Film über den jungen John Lennon. Tolle Musik und ein tränenreiches Ende. Erst da habe ich realisiert, dass dieser Verlust schmerzt, wenn nicht körperlich, so doch mental. Um den Verlust zu verarbeiten, habe ich dann viel gelesen, Simone de Beauvoir zum Beispiel. Das hilft mir in schweren Zeiten immer.
War diese Erfahrung für Ihre jetzige Schwangerschaft hilfreich?
Ja. Sie hat mich darin bestärkt, gerade in den ersten Monaten Stress zu vermeiden.
Wie lange werden Sie nach der Geburt Ihres Kindes zu Hause bleiben?
Ich genehmige mir eine Babypause von etwa drei Monaten.
Warum nicht länger?
Das liegt daran, dass Ministerinnen und Bundestagsabgeordnete keine Elternzeit nehmen dürfen.
Bitte?
Bis vor einigen Jahren galten ja noch nicht einmal die 14 Wochen gesetzlicher Mutterschutz als entschuldigte Fehlzeit für eine Abgeordnete. Man musste sich krankschreiben lassen. Mittlerweile darf eine Mutter bei namentlichen Abstimmungen ihr Baby immerhin mit in den Plenarsaal nehmen. Früher durften nur Abgeordnete hinein, und ein Säugling ist ja kein Abgeordneter...
Wie soll das beides gehen – eine 70-Stunden-Woche und die Erziehung eines kleinen Kindes?
Es wird nicht einfach, das ist mir klar. Ich muss mich vor allem von dem Bild befreien, dass wir Politiker und Politikerinnen von unserem Beruf zeichnen. Keine Zeit zu haben gehört für viele zum Berufsethos. Sie rühmen sich, immerzu gestresst zu sein, nie ins Theater gehen zu können. Das ist so eine zur Schau getragene Überarbeitung. Das ist weder kinderfreundlich, noch fördert es die Gesundheit. Und die Qualität von Politik verbessert es schon gar nicht.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Ich möchte meine Arbeitszeit radikal reduzieren. Insgeheim träume ich von einer Arbeitswelt, in der für alle die 20-Stunden-Woche Praxis ist.
Da können Sie Ihren Job ja gleich an den Nagel hängen.
Mein Eindruck ist, dass die Qualität von Politik gewinnt, wenn man sich immer wieder aus dem Hamsterrad befreit und eine neue Perspektive einnimmt. Ob mir 20 Stunden reichen, kann ich heute noch nicht sagen – aber es ist mein gesellschaftliches Leitbild.
Was sagt Ihr Mann dazu?
Er findet es gut. Wenn einer in der Beziehung 70 Stunden pro Woche arbeitet, bedeutet das für den anderen, zu Hause mehr wegtragen zu müssen. So wollen wir aber nicht leben. Wir werden uns die Erziehung unseres Kindes gleichberechtigt teilen.
Ihr Mann trägt das Baby vormittags zum Stillen in Ihr Büro?
Das kann durchaus mal passieren. Am liebsten hätten wir beide auf Elternteilzeit umgestellt, ich hätte dafür gern eine Reduzierung meiner Diäten in Kauf genommen – aber als Abgeordnete geht das eben nicht. Doch es gibt eine noch viel größere Ungerechtigkeit beim Elterngeld: Wenn sich beide Eltern entscheiden, im Babyjahr ihre Arbeitszeit zu halbieren, bekommen sie das Elterngeld nicht 14, sondern maximal sieben Monate lang. Die beste aller Lösungen, die gleichberechtigte Erziehung durch Mutter und Vater, wird dadurch finanziell bestraft. Das muss sich ändern.
Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Kipping von Charlotte Roches Buch "Schoßgebete" hält
Wie machen Ihr Mann und Sie das mit der Kinderbetreuung?
Mal übernimmt er, mal übernehme ich, fifty fifty. Das wird viel Organisation erfordern. In meinem Bundestagsbüro wird ein Wickeltisch stehen. Als Abgeordnete werde ich weiter zwischen Berlin und Dresden, meinem Wahlkreis, pendeln. In Berlin haben wir eine Wohnung, in Dresden lebe ich in einer WG – fünf Erwachsene, ein Kind, ein Hund.
Klingt nicht, als würde es einfach werden.
Meine Freundinnen haben mich schon gewarnt: Mit einem kleinen Kind lasse sich nichts mehr genau planen. Da muss ich umdenken. Bislang waren meine Tage streng durchgetaktet.
Was macht Ihr Mann beruflich?
Er ist Wissenschaftler. Und der Rest ist Privatsache.
Ist Spitzenpolitiker ein familienfeindlicher Beruf?
Kinderfreundlich ist er jedenfalls nicht. Aber ich will nicht klagen. Politiker sind in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Wir haben ein Einkommen, das vieles möglich macht. Eine Supermarktverkäuferin hat es da deutlich schwerer, auch viele alleinerziehende Mütter, deren Lohn nicht zum Leben reicht. Sie müssen sich zwischen Job und Kindererziehung zerreißen.
Wird es eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?
Ein Mädchen.
Haben Sie Angst davor, dass Ihr Kind Ihren Blick auf die Welt komplett verändern könnte? Dass Politik unwichtig wird?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass plötzlich alles unwichtig wird, was mir bislang wichtig war.
Nehmen Sie als Schwangere die Umwelt anders wahr?
Na klar. Im Zug nach Dresden habe ich bislang nur darauf geachtet, ob es eine Steckdose für meinen Laptop gibt. Inzwischen gucke ich, ob in den Gängen Platz für einen Kinderwagen ist. Und ich erfahre gerade praktisch, was ich bislang nur theoretisch wusste: Wie wahnsinnig schwierig es ist, einen Kitaplatz zu bekommen.
Kann man sieben Kinder haben und Ministerin sein wie Ursula von der Leyen?
Klar. Ich kritisiere zwar vieles an ihrer Politik, aber nicht, dass sie sieben Kinder und ihren Ministerjob unter einen Hut bringt. Wissen Sie, was mir viel wichtiger ist?
Was denn?
Ob es in diesem Land Bedingungen gibt, die es jedem ermöglichen, Kinder, Beruf, Politik und Muße miteinander zu verbinden – unabhängig davon, ob er die Ressourcen und das Einkommen einer Ministerin hat. Mal abgesehen davon, stört mich Ihre Frage.
Warum?
Werden Männer mit solchen Fragen konfrontiert? Peter Ramsauer ist auch Minister, er hat vier Kinder. Wird öffentlich darüber debattiert, ob er sich um seine Kinder und den Haushalt kümmert?
Andrea Nahles sagte vor der Geburt ihres Kindes, sie habe Angst um ihren Job. Sie auch?
Nein, hab ich nicht.
"Mein Job ist einer, der Begehrlichkeiten weckt", sagte die SPD-Generalsekretärin. Vielleicht will Ihren Job keiner haben?
Netter Versuch. Nächste Frage.
"Schoßgebete" von Charlotte Roche gelesen?
Bin gerade dabei.
Die Hauptfigur des Buches, eine junge, verheiratete Frau, tut alles, damit ihre Familie funktioniert. Sie geht mit ihrem Mann sogar ins Bordell, damit er seine sexuellen Wünsche ausleben kann. Gefällt Ihnen dieses Bild einer modernen jungen Frau?
Ich finde das Buch unterhaltsam. Man würde Charlotte Roche Unrecht tun, wenn man ihr Buch als ein Plädoyer für genau dieses Lebensmodell versteht. Im Gegenteil, sie setzt wichtige Impulse für die feministische Debatte. Sie verteidigt die Körperlichkeit der Frau. Und genau damit irritiert sie. Es war doch lange Zeit so, dass Frauen über ihren Körper einfach nicht zu reden hatten. Allerdings ärgern mich im Buch die Angriffe auf die klassische Frauenbewegung.
Mauerdebatte, Fidel-Castro-Glückwünsche, Führungskrise – Ihre Partei versinkt im Chaos. Denken Sie in Ihrer Situation manchmal: Leute, Ihr habt sie nicht mehr alle?
Chaos sieht anders aus. Aber man muss nicht schwanger sein, um zu erkennen, dass uns diese Debatten nicht weiterbringen.