Natürlich habe ich sofort "ja!" gesagt, als mich die Ressortleiterin damals fragte, ob ich nach Ostberlin fliegen wolle. In der Konferenz hatten sie am Morgen einen Großeinsatz beschlossen. Wer konnte, sollte sofort in die DDR reisen. Berlin, Dresden, Magdeburg - ganz egal. Hauptsache die Taskforces des stern wären vor Ort, wenn passieren würde, was sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorstellen konnte. Der Fotograf Dirk Eisermann und ich sollten beobachten, was sich in den folgenden Tagen ereignete, in den Tagen des deutschen Herbstwunders. Es war aufregend. Es war Revolution. Es war meine allererste Reise in die DDR.
Eisermann war bereits vor Tagen mit dem Auto nach Ostberlin gefahren und hatte uns Zimmer im Palast-Hotel gebucht. Es war ein blind verspiegelter Klotzbau im Ostzonen-Schick, der neben dem Berliner Dom lag und gegenüber von Honeckers Palast der Republik. Heute heißt das Palast-Hotel "Radisson Plaza" und dort, wo Erichs Glaspalast lag, lag im vergangenen Sommer Rollrasen.
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Merkel, Ostberliner Nasszellen und ich
Ich flog also mit einigen Kollegen von Hamburg nach Berlin. Die PanAm-Flugstrecke existierte damals noch. Es war die schnellste Verbindung. Vom Flughafen aus ging es zum Grenzübergang Friedrichstraße, wo Eisermann mich mit einem eilig ausgestellten Journalistenvisum erwartete. Gegen sieben Uhr etwa kamen wir im Hotel an. Ich wollte nur schnell noch unter die Dusche, weil ich so durchgefroren war - nieselnder November eben -, dann wollten wir zum Prenzlauer Berg. Das war der Plan.
Ich hatte den Wasserhahn gerade voll aufgedreht, als der Kollege plötzlich wild gegen meine Tür trommelte. Es war vielleicht halb acht, ich hatte nasse Haare. "Die machen die Grenze auf, los komm!", rief er. Ich dachte, jetzt spinnt er. Aber er hatte irgendwas im Fernsehen gehört oder gesehen. Seit neunzehn Uhr vier meldete Associated Press, die Ausreise für DDR-Bürger sei unverzüglich möglich. Ich musste ihm glauben.
Es ist eine der wenigen biographischen Begebenheiten, die ich mit Angela Merkel gemeinsam habe: Im entscheidenden Moment der jüngeren deutschen Geschichte befanden wir uns in einer Ostberliner Nasszelle - ich in der Hoteldusche, sie in einer Sauna. Doch während die spätere Bundeskanzlerin damals in ihrer Sauna nichts von all dem hören und sehen konnte, sondern einfach weiter saunierte, liefen wir sofort zum Bahnhof Friedrichstraße.
Ein paar Dutzend Leute redeten dort bereits auf Polizisten oder Grenzbeamte ein. Sie wollten rüber, es sei erlaubt. Aber die Uniformierten rührten sich nicht, sie hatten keine Ahnung, sie wirkten nervös. Eisermann fotografierte los, ich sprach mit Männern und Frauen, die vom Abendbrottisch aufgebrochen waren, in dünnen Jacken, und nur mit dem Ausweis in der Tasche. Familien kamen angerollt mit schlafenden Kindern im Kinderwagen, junge Leute brachten Sektflaschen mit.
Wir zogen weiter zum Grenzübergang Invalidenstraße. Es war mondlos dunkel, der bittere Rauch aus den Heizöfen hockte tief auf der Stadt. Unterwegs trafen wir Redaktionskollegen, die zur Bornholmer Straße wollten. Wir überlegten kurz, ob und wie wir die Hamburger Redaktion informieren sollten. "Das könnte vielleicht eine Titelgeschichte werden", meinte einer der beiden Kollegen. Das wär' ja toll, dachte ich, Titelgeschichte....

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Nur zur Erinnerung: Mobiltelefone gab es 1989 noch nicht. Es gab Satelliten-Telefone, groß wie ein Schuhputzkasten und so schwer, wie ein Gebinde Briketts. Das WLAN war noch nicht erfunden, und das Blackberry auch nicht. Man muss das erwähnen, weil es uns im Nachgang oft unvorstellbar erscheint wie rasant sich die Ereignisse jener Nacht auch ohne Internet und Handykamera entwickeln und verbreiteten konnten.
In dieser Nacht war alles möglich
Wir Straßenredakteure in Berlin waren - von heute aus betrachtet - in jenen Stunden ahnungsloser als jeder Tischredakteur in Hamburg. Denn die wurden ja vom Agenturmaterial und vom Fernsehen umfassend auf dem Laufenden gehalten, während wir immer nur einen winzigen Teil des ganzen Puzzles, das vor uns im Dunkeln lag, sahen. Im Grunde war uns allen wohl das Große, das Ausmaß dieses Weltereignisses, das sich irgendwann live vor unseren Augen abspielte, noch nicht klar. Wir waren Teil der Geschichte und wussten es nicht. Wir spürten, aber wir glaubten nicht. Alles war in dieser Nacht. Und alles war möglich. Das Leben und das Hoffen, die Freiheit und der Tod.
Nach unserer kleinen Beratung beschlossen wir jedenfalls, einfach weiterzumachen. Es würde zu lange dauern, über die DDR-Telefone "ein Amt" nach Hamburg zu kriegen. Those were the days, my friend....
Aus den Nebenstraßen wimmelten nun Menschengruppen zum Brandenburger Tor. Dorthin, wo die Grenzsoldaten mit unveränderter Miene hinter ihren Absperrgittern Wache schoben, das Gewehr starr vor der Brust. Durch die Spalte im Tor sah man viele Westberliner auf der Straße des 17. Juni, sie liefen direkt auf uns zu. Die ersten versuchten bereits auf die Mauer zu klettern. Es war ein nasskalter Novemberabend, aber wir alle waren im Fieberrausch.
Schon als wir in die Invalidenstraße einbogen, hörten wir, wie sie "Macht das Tor auf" sangen. Wenige Stunden war es her, dass Günter Schabowskis Pressekonferenz stattgefunden hatte, Tausende waren auf den Beinen. Dass Hanns Joachim Friedrichs in den Tagesthemen um Viertel vor elf gesagt hatte: "Die Tore in der Mauer stehen weit offen", hatten wir Reporter nicht gehört. Aber die, die nun in ihren Trabis auf den Grenzübergang zurollten, hatten es im Westfernsehen mitgekriegt.
Der Tumult war unvorstellbar. Es war wohl weit nach elf und immer noch hatte sich das Gitter nicht für alle geöffnet. Nur dann und wann durfte jemand passieren. Viele waren aggressiv, manche weinten. Dann endlich drehte ein Grenzer den Schlüssel. Nach meiner Erinnerung war es ein Vorhängeschloss, das über all die Jahre jenen Teil Berlins vom anderen abgeriegelt hatte. Ein ganz normales Vorhängeschloss. Die Leute schrien, als die Gittertore sich endlich wie Fittiche auftaten. Sie hupten, schwenkten Bierflaschen, sie lachten und weinten, und alles durcheinander. Dauernd umarmte mich jemand, umarmte jemand den Fotografen. Auch wir lachten und weinten durcheinander. Gefühlschaos und wirkliches Chaos trafen sich in dieser engen Straße. Wir standen, staunten und fotografierten.
Auf einmal kamen mir die Grenzbeamten in den Blick, die mit fassungslosem Gesichtsausdruck beobachteten, was vor ihren Augen passierte. "Alles dahin", schienen sie zu denken, "alles dahin." Ich muss über all dem Glück jener Nacht bis heute immer auch an diese leeren Gesichter denken. An junge Polizisten, die in jenem Moment wohl ahnten, dass alles, was sie in ihrem Leben bis dahin für gut und richtig gehalten hatten, vorbei war. Sie taten mir leid. Nicht eine Minute lang hatten wir Angst gehabt, dass sie auf die Menge schießen würden.
Champagner und Austern zum Frühstück
Fast alle stern-Kollegen machten die Nacht durch. Zwei von uns schlugen sich in der Früh nach Tegel durch und flogen mit einem gecharterten Flieger nach Hamburg, um aufzuschreiben, was wir erlebt hatten. Die anderen trafen sich um fünf im "Grand-Hotel" und versuchten die Hamburger Redaktion zu erreichen. Irgendwann schreckte am anderen Ende jemand aus dem Schlaf: "Ruhig, Kinder", sagte die Stimme, "erst mal sehen, ob das am nächsten Donnerstag überhaupt noch so eine große Geschichte ist."
Als wir am Morgen des 10. November schließlich zum Frühstück gingen, hörten wir am Nebentisch, wie sich Deutschland - unser Land und das der anderen - über Nacht verändert hatte. Die Frühstückskellnerinnen glänzten noch immer glücklich, obwohl sie statt zu schlafen über den Kurfürstendamm flaniert und im Cafe Kranzler sogar mit Sekt begrüßt worden waren. Pünktlich, treudeutsch, pflichtbewusst waren sie dennoch um sechs in ihre Livreen gestiegen und servierten nun den Journalisten und Fotoreportern aus aller Welt Rührei und Kaffee.
Aber auch andere frühe Vögel waren bereits vor Ort. Geschäftsleute, Entrepreneure, Glücksritter und Propheten aus dem Westen. Einer von ihnen bestellte zur Feier des Morgens Champagner und Austern - "mit Zwiebeln und Tabasco". Die Hotelangestellte brachte dann auch ein Dutzend Fin de Claire auf dem Silbertablett. Und dazu - statt gehackter Stücke - eine große ungeschälte Zwiebel. Der Gast war außer sich: "Also Mädchen, eins versprech' ich dir", ranzte er die Kellnerin an, "wenn Ihr hier nicht ganz schnell lernt, wie man Austern isst, dann wird das nichts mit Eurer Einheit." Seither muss ich fast immer, wenn ich an das Glück des 9. November 1989 denke, auch an die Austern-Situation vom 10. November denken.
Es gibt eben immer einen Idioten, der einem sogar die ganz großen Momente mit Kleingeist versaut.