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Parteitag der Grünen Haste mal 'n Thema, ey?

Atomdebatte weg, Anti-Parteien-Image weg - und dann muss Kretschmann womöglich auch noch S21 bauen. Was nun? Auf ihrem Parteitag in Kiel fahnden die Grünen nach Antworten.
Von Lutz Kinkel

Eigentlich war dieser Parteitag als Jubelorgie geplant. Luftballons, Fähnchen, ökologisches Bier. Verdient hätten es sich die Grünen, 2011 war das erfolgreichste Jahr der Parteigeschichte: Stimmengewinne bei allen Landtagswahlen, flächendeckende Vertretung in den 16 deutschen Länderparlamenten, in Baden-Württemberg stellen sie sogar - und das ist schon eine kleine Revolution - den Ministerpräsidenten. Im Gegensatz zu CDU, SPD, Linken und FDP verzeichnen die Grünen sogar einen Zuwachs an Parteimitgliedern. Auch das ist, in Zeiten der Politikverdrossenheit, beachtlich. Schon schick, diese grüne Braut.

Wäre da nicht … das ungute Gefühl, dass die Party schon wieder vorbei ist. Grund ist die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Die grüne Spitzenkandidatin Renate Künast konnte vor Kraft kaum laufen, als sie in den Wahlkampf startete, das Ziel war nicht eine Regierungsbeteiligung, sondern die Eroberung des Roten Rathauses: Künast putzt Wowi weg! Nach zahllosen verkorksten Auftritten landete Künast jedoch unsanft bei 17,6 Prozent. Ein paar Tage später ließ Klaus Wowereit die Koalitionsgespräche scheitern. Und sofort brach ein hässlicher, mit viel Gebrüll geführter Streit zwischen den Berliner Parteiflügeln aus, der zum Rücktritt des Fraktionsvorsitzenden führte. Es ist, als hätte sich die Braut noch vor der Trauung derart betankt, dass sie sich das Kleid vollkotzt.

Gesucht: das neue Megathema

Manche finden die Katerstimmung, die sich seitdem breit gemacht hat, allerdings gar nicht so schlecht. Der Höhenflug, den die Grünen auch aufgrund der Atomkatastrophe in Fukushima erlebten, habe eine interne Debatte losgetreten, ob es nicht Zeit sei, sich als "Volkspartei" aufzustellen und dafür Ecken und Kanten wegzuschleifen. Diese Debatte sei nun glücklicherweise beendet, sagt ein Führungsmitglied zu stern.de. Stattdessen ist das Bedürfnis gestiegen, wieder alte grüne Qualitäten zu präsentieren, nämlich unbequem, diskussionswütig, aber auch visionär zu sein. Auf dem Parteitag in Kiel werden mehr als ein Dutzend Workshops abgehalten, alle sind öffentlich zugänglich, einer soll sogar auf dem Podium tagen, damit die Fernsehkameras ihn beobachten können. Die Braut in der Selbsthilfegruppe.

Mit den Inhalten ist es indes auch nicht mehr so leicht wie früher. Kanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer abrupten Kehrtwende in der Atompolitik die Grünen geradezu bestohlen, sie entriss der Partei ein Thema, mit dem sie jederzeit zigtausende Menschen mobilisieren konnte. Gleichzeitig tauchten die Piraten auf, auch das ein Ergebnis der Berliner Wahl. Sie positionieren sich als Anti-Parteien-Partei, was die Grünen in ihren Anfängen auch taten, und sie besetzen mit blutjunger Leidenschaft die Begriffe Internet, Bürgerrechte und Demokratie. Bleibt Winfried Kretschmann, Ministerpräsident in Baden-Württemberg, der sich aus dem Protest gegen Stuttgart 21 einen Wahlerfolg bastelte. Allein: Wer regieren will, darf nicht nur "Dagegen-Partei" sein. Selbst Kretschmann ist womöglich gezwungen, dafür zu sein, nämlich dann, wenn die Volksabstimmung am Sonntag ein Votum für das Tiefbahnhofprojekt ergibt. Die Braut ist auch ein bisschen ratlos.

Rudern, nicht segeln

Wer sich mit Grünen darüber unterhält, was das kommende Megathema der Partei sein könnte, bekommt zur Antwort, dass man das selbst gerne wüsste. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus vielleicht? Klassiker wie der Green New Deal? Klimapolitik? Europa? Jürgen Trittin, nach Künasts Berliner Pleite stärker denn je, wird sich in Kiel auf die Finanzpolitik werfen, das verspricht den einflussreichsten Ministerposten 2013. Es geht um einen höheren Spitzensteuersatz, Vermögenssteuer oder -abgabe, Wiedereinführung der Erbschaftssteuer, Ausgleich zwischen Bund, Ländern und Kommunen, einen Mindestlohn und dergleichen mehr. Zu erwarten ist eine scharfe Debatte zwischen eher wirtschaftsfreundlichen und eher linken Grünen - aber keine fundamentale grüne Sinnstiftung.

Parteichef Cem Özdemir hatte schon Recht, als er in der Berliner Parteizentrale die beiden kommenden Jahre mit einem Zitat seines Parteifreunds Boris Palmer charakterisierte. Der hatte gesagt, die Grünen könnten nicht mehr segeln, sie müssten nun rudern. Raus aus dem Brautkleid, rein in die Arbeitskluft. Es bleibt nichts anderes übrig.

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