Nicht alles auf einem Parteitag ist geplant. Manches entwickelt sich spontan, aus der aktuellen Stimmungslage heraus. In Leipzig waren sich die Spitzengenossen am Freitagabend einig: Wir dürfen den Parteitag nicht in "Novembermoll" (Ralf Stegner) austrocknen lassen. Also erging an Parteichef Sigmar Gabriel der dringende Rat, den Delegierten noch etwas mitzugeben. Eine Botschaft, einen Schlachtruf. Etwas, an dem sie sich festhalten können. Etwas, das sie antreibt.
Und so platzte Gabriel am Samstagvormittag völlig überraschend in die Debatte um Kommunalpolitik, sagte ein paar Sätze zu Schulen und drehte dann seine Rede mit einer abenteuerlichen 180-Grad-Wende in die Aktualität.
Dieser Parteitag käme zum "ungünstigsten Zeitpunkt", sagte Gabriel. Nach einer verlorenen Bundestagswahl und vor einem festgezurrten Koalitionsvertrag. "Jeder hat doch gespürt, wie unsicher, wie unwohl wir uns fühlen." Das habe sich auch in den mäßigen Wahlergebnissen der Parteispitze gespiegelt. Geradezu empört äußerte sich Gabriel über den Fall des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz, der zu Hause mit absoluter Mehrheit regiert, aber in Leipzig bei der Wahl zum Parteivize mit 67,3 Prozent hart abgestraft wurde. "Das muss mir mal einer erklären", echauffierte sich Gabriel.
Mindestlohn steht nicht zur Debatte
Und dann predigte Gabriel nochmals, mit der ganzen Wucht der ihm eigenen rhetorischen Möglichkeiten, die Losung für die kommenden Wochen. "Wir werden der Partei keinen Koalitionsvertrag vorlegen, der unklar ist, der aus Prüfaufträgen besteht", sagte er. Der Vertrag müsse vielmehr die Kernforderungen der Sozialdemokratie erfüllen. Gabriel zufolge zählen dazu:
- Einführung eines Mindestlohns
- gleiches Geld für gleiche Arbeit
- Rückführung von Werk- und Zeitverträgen
- abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren
- doppelte Staatsbürgerschaft
- Begrenzung der Waffenexporte
Ohne diese Bestandteile werde er den Koalitionsvertrag nicht zur Abstimmung vorlegen. Die Union habe die SPD ohne konkrete Zusagen in den Berliner Parteikonvent und auf den Leipziger Parteitag geschickt. "Jetzt müsst ihr liefern, liebe Leute von der Union", röhrte Gabriel - und es scheint, als habe Angela Merkel die Botschaft bereits verstanden. Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union Erfurt jedenfalls stimmte sie ihr Publikum bereits darauf ein, dass der Mindestlohn kommen wird.
Zuletzt nahm Gabriel die Delegierten so hart wie möglich an die Kandare. "Ganz Europa schaut auf diesen Parteitag", rief er, die Menschen würden wissen wollen, ob die SPD etwas für sie heraushole oder sich drücke. Und wenn der Koalitionsvertrag ein Erfolg werde, müssten alle dafür werben, nicht nur die Parteispitze. "Dann müsst ihr kämpfen, dann dürft ihr nicht zweifeln", beschwor Gabriel die Delegierten. "Die Aufteilung 'ihr da oben, wir da unten' gibt es dann nicht mehr." Alle stünden in der Verantwortung, erst recht, wenn das Mitglieder-Votum das Regieren in der großen Koalition befürworte.
Standing Ovations für Gabriel
Nicht allen SPD-Mitgliedern gefiel das. Eine ältere Dame aus Köln war schon während Gabriels Rede außer sich. "Demagogie", schimpfte sie, es sei "unverschämt", welchen Druck der Parteichef aufbaue. "Ich will die große Koalition nicht", sagte sie zu stern.de. "Ich will, dass die SPD eine sozialdemokratische Partei bleibt." Die große Mehrheit auf dem Parteitag hingegen begrüßte Gabriels Rede. Er bekam Standing Ovations. Wohl auch, weil er sich nochmals so klar und kämpferisch in den Dienst der Sache stellte. Es gehe nicht um Ämter - "uns gibt's nicht für ein paar Ministerposten, mich auch nicht" - sondern um sozialdemokratische Politik. Das war es, was die Delegierten hören wollten, die Worte schossen wie eine Aufbauspritze in ihre Adern.
Auch wenn die Rede natürlich nicht ganz aufrichtig war. Warum Olaf Scholz so schlecht bei der Wahl zum Vize abgeschnitten hat, weiß jeder Sozialdemokrat, auch wenn sich niemand zitieren lassen will. Ein Grund ist der harsche Umgang seiner Stadtregierung mit Flüchtlingen. Ein anderer die Selbstgefälligkeit, mit der Scholz nach der Bundestagswahl die Berliner Spitze seiner Partei kritisiert hat. Und das Risiko, das Gabriel bei den Koalitionsverhandlungen eingeht, ist auch nicht so groß, wie es der Parteichef aus taktischen Gründen gerne macht.
Ein Spitzengenosse wies darauf hin, dass Gabriel eine sehr, sehr ähnliche Rede schon beim Berliner Parteikonvent gehalten habe. Offenbar haben Merkel, Gabriel und Seehofer schon früh viel mehr verabredet, als der Theaterdonner um die Koalitionsverhandlungen Glauben macht. Gabriel muss gewusst haben, dass er nur gewinnen kann - schließlich hängt am Ausgang der Verhandlungen nicht nur eine Regierungskoalition. Sondern auch seine eigene Karriere.