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Flüchtlinge, Hooligans, Silvester Die Ohnmacht der deutschen Polizei

Vielleicht noch nie war die Polizei in Deutschland so wichtig wie in diesen Tagen - und noch nie war sie in einem solch desolaten Zustand. Die Beamten sind so überfordert, dass Straftaten wie Einbruch oder Diebstahl oft ungeahndet bleiben.
Von Kerstin Herrnkind und Walter Wüllenweber

Es ist schon wieder passiert: Die deutsche Polizei hat eine entscheidende Schlacht verloren. In der Silvesternacht wurden über 500 Frauen vor dem Kölner Dom von einem Mob hauptsächlich arabischer und nordafrikanischer Männer sexuell erniedrigt und ausgeraubt. Unter den Augen der Polizei. Die Beamten mussten mit ansehen, wie Frauen von Männern umringt und begrapscht wurden, sie hörten ihre Hilferufe. Aber die Schutzmänner konnten die Frauen nicht beschützen. Sie waren einfach zu wenige. Etwa 250 Polizisten trafen auf über 1000 Männer. Zu den Opfern gehörte auch eine Polizistin in Zivil, die sich zur Aufklärung unter die Menschenmenge gemischt hatte.

Das letzte Waterloo der deutschen Polizei, das weltweit Schlagzeilen machte, liegt gerade erst wenige Monate zurück: Heidenau in Sachsen, Ende August. Auch hier standen viel zu wenige Uniformierte einem Mob von etwa 1000 enthemmten Männern gegenüber. Damals waren die Gegner der Polizei keine ausländischen Taschendiebe, sondern einheimische Neonazis. Zwei Nächte hintereinander verprügelten junge Männer ohne Migrationshintergrund die Bereitschaftspolizei. Die Einsatzleiter forderten verzweifelt Verstärkung an. Aber weit und breit waren keine Einsatzkräfte in Reserve.

Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Polizei so wichtig wie heute. Und noch nie war sie in einem so desolaten Zustand. 

Für die Polizei war 2015 ein Wendepunkt

Das Jahr 2015 war ein Wendepunkt für die innere Sicherheit Deutschlands. Seitdem muss die Polizei gleich mehrere, zusätzliche Aufgaben erledigen, die jede für sich bereits eine gewaltige Herausforderung für den gesamten Apparat darstellt: Terrorabwehr und Islamismus. Über eine Million Flüchtlinge, unter denen nach statistischer Wahrscheinlichkeit auch einige Tausend Straftäter sein werden. Ein immer brutalerer Rechtsextremismus. Die überforderte Polizei kann nicht verhindern, dass alle paar Tage eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen wird. Und die Täter kommen fast immer davon. Die Zahl der Demonstrationen und "großen Lagen" nimmt dramatisch zu. In Berlin muss die Bereitschaftspolizei heute dreimal so häufig zu Großeinsätzen ausrücken wie noch vor zehn Jahren. Bundesweit ist die Zahl der Stunden, die die Polizei im Bundesliga-Einsatz verbringt, in diesem Zeitraum um ein Drittel gestiegen. Und dazu jede Woche Pegida.

Diese neuen arbeitsintensiven Zusatzaufgaben muss die Polizei mit immer weniger Personal bewältigen. Seit Mitte der 90er Jahre haben die Innenminister der Länder und des Bundes insgesamt 16.000 Stellen bei der Polizei gestrichen. Mehr Arbeit, weniger Leute, das bedeutet Überstunden. Für den stern hat die Gewerkschaft der Polizei ausgerechnet, dass Deutschlands Ordnungshüter allein 2015 rund 20 Millionen Überstunden abgeleistet haben. Der Krankenstand hat einen historischen Höchststand erreicht. "Wir sind längst über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus", sagt Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP). "Wir büßen jetzt für die Fehler der Vergangenheit." Das ist inzwischen auch den Bürgern klar geworden. 68 Prozent der Deutschen halten die Polizei für überfordert und glauben, dass sie die Kriminalität nicht mehr wirksam bekämpfen kann. Das ergab eine Forsa-Umfrage für den stern.

Mit Filzkugeln auf Luftballons

Doch nicht nur beim Personal hat der Mangel ein gefährliches Ausmaß erreicht. Die Ausrüstung, mit der die Innenminister ihre Polizisten in die Schlacht schicken, ist in einem erbarmungswürdigen Zustand. Kaum ein Streifenwagen ist – wie vorgesehen – mit Schutzwesten ausgestattet, die auch Kugeln aus militärischen Waffen abhalten. Zum Fuhrpark der Berliner Polizei gehören jede Menge Rostlauben, die eigentlich ein H-Kennzeichen für Oldtimer führen müssten, weil sie älter als 30 Jahre sind. Genauso alt sind auch die Dienstpistolen der bayerischen Polizei mit altersschwachen Schlagbolzen und Rissen im Verschluss.

Vielleicht sollten sie mit den Berliner Kollegen tauschen, denn die können derzeit ohnehin nicht schießen. In der Hauptstadt dürfen die meisten Schießstände aus Sicherheitsgründen seit inzwischen zwei Jahren nicht mehr benutzt werden. Bei manchen Übungen schießen die Beamten darum mit Filzkugeln auf Luftballons. Da zittert der Gangster. In einer Bremer Wache klettert Efeu durch das undichte Fenster in die Asservatenkammer. Auf vielen Revieren ist das Fax noch immer beliebt und das Internet so schnell wie zu Modem-Zeiten. Und Broder Feddersen muss seinen Dienst an einem Arbeitsplatz verrichten, der in jeder anderen Firma den Betriebsrat auf die Barrikaden treiben würde.

Feddersen ist Erster Polizeihauptkommissar (EPHK) bei der Bundespolizei im schleswig-holsteinischen Ratzeburg. Mehrere Hundertschaften stehen unter seinem Kommando. Zu normalen Zeiten wäre Feddersen womöglich an Silvester auf die Reeperbahn nach Hamburg beordert worden oder nach Köln, um die unterbesetzten Einsatzkräfte auf der Domplatte zu unterstützen. Die Einheiten der Bundespolizei sind die Reservearmee der Bundesländer. Bei Fußballspielen, Demonstrationen oder anderen großen Lagen können die Länder Hundertschaften des Bundes anfordern. Doch Feddersen und seine Kollegen sind derzeit verhindert.

700 Überstunden in dreieinhalb Monaten

14. September 2015, sechs Uhr früh. Feddersen wird vom Alarm geweckt. Eine Stunde später sitzt er im VW-Bus. Seine Einheit wird an die Grenze zu Österreich verlegt. Am Vortag hatte Innenminister Thomas de Maizière entschieden, Grenzkontrollen einzuführen. Nach zehnstündiger Fahrt warten Hunderte Flüchtlinge auf einem Bahnsteig in Freilassing auf die Beamten aus dem Norden. "Die Situation war chaotisch." Feddersen teilt seine Leute ein und bezieht das provisorische Lagezentrum in einem winzigen Raum des Bahnhofsgebäudes. Dann beginnt seine erste Schicht. Als er endlich Feierabend machen kann, hat er 30 Stunden durchgearbeitet.

Damit ist EPHK Broder Feddersen inoffizieller Rekordhalter 2015, der Polizist mit der längsten Schicht. "Ich bin mir da nicht so sicher. Kann gut sein, dass andere noch länger im Einsatz waren", sagt er. Nach getaner Arbeit fährt er eine Stunde in sein Quartier: eine Ferienhütte für acht Personen. Er muss sich ein Doppelbett mit einem Kollegen teilen. "Die Erfahrungen haben hier viele gemacht: Man wacht morgens auf mit einem fremden Mann im Bett" , sagt Feddersen.

Seit September verbringt der Bundespolizist die meiste Zeit in einer Zehn-Quadratmeter-Butze, die als Einsatzzentrale dient. Zwei Schreibtische mit sechs Computerarbeitsplätzen, an denen acht Beamte gleichzeitig arbeiten. Einziger Schmuck ist ein DIN-A5-großes Porträt von Bundespräsident Joachim Gauck. Zwischen Mitte September und Silvester hat Feddersen 700 Überstunden angehäuft. Würde er sie auf einmal abfeiern, könnte er ein halbes Jahr in Urlaub fahren.

Bundesliga, Pegida, Silvester

Broder Feddersen ist 59 Jahre alt und seit 40 Jahren bei der Polizei. Er war bei den Anti-Atomkraft-Demos in Brokdorf und Wackersdorf dabei, in der Hamburger Hafenstraße, an der Startbahn West in Frankfurt und beim Mauerfall. Er ist ein lückenloser Zeitzeuge der jüngeren Polizeigeschichte Deutschlands. Doch eine solche Situation wie im vergangenen halben Jahr hat selbst Feddersen noch nicht erlebt: "Diese Intensität, diese Belastung auf Dauer ist schon einmalig."

Als Innenminister de Maizière die Kontrollen einführte, kommandierte er "alle verfügbaren Kräfte" an die Grenze. Die große Reserve der deutschen Polizei ist damit aufgebraucht. Feddersen und seine Leute haben jedoch schon vor September an der Belastungsgrenze operiert. Seit 2007 hat er seinen Jahresurlaub nicht mehr vollständig nehmen können. Beinahe jede Woche war er woanders im Einsatz: Bundesliga, Pegida, Legida und zu Silvester in Städten mit Randale-Potenzial. Wer übernimmt jetzt diese Einsätze? "Die werden entsprechend vernachlässigt", sagt Feddersen.

Genau das entwickelt sich immer mehr zum Arbeitsprinzip der deutschen Polizei: Vernachlässigung. Denn unter der Mangelwirtschaft leiden nicht nur die Beamten selbst, sondern vor allem deren Aufgaben: Sicherheit und Strafverfolgung. Selbst in Bayern, wo die Gesetzeshüter für deutsche Verhältnisse komfortabel ausgestattet sind, wurden im Herbst beispielsweise Schleierfahnder zum Flüchtlingseinsatz abkommandiert. Das sind ausgezeichnete Nachrichten für Kriminelle, denn die Schleierfahnder hatten zuvor im Grenzgebiet Jagd auf Einbrecherbanden, Drogenkuriere und Autoschieber gemacht, mit einer hohen Erfolgsquote. Diese Arbeit bleibt nun liegen. "In der Aufklärungsquote wird das sicherlich seinen Niederschlag finden", sagt Thomas Bentele, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Bayern.

Fälle auf Halde

Michael Kiau wurde zum Opfer der Personalnot bei der bayerischen Polizei. Kiau ist Juwelier in der Kleinstadt Grafing vor den Toren Münchens. Im November kamen zwei Männer in seinen Laden und ließen sich von einer Verkäuferin jede Menge Schmuck zeigen. Als immer wieder Ketten wie zufällig zu Boden fielen, schöpfte die Verkäuferin Verdacht. Ihre Kollegin rief die Polizei an. Doch der Beamte teilte ihr mit, es sei leider kein Streifenwagen frei. Die Täter verließen den Laden mit einer Beute im Wert von 15.000 Euro. Draußen standen sie noch einige Minuten vor ihrem Auto, einem VW Sharan mit britischem Kennzeichen. Zweiter Anruf bei der Polizei. Noch immer kein Streifenwagen frei. Außerdem: "Das ist eine ausländische Nummer. Da können wir keinen Halter feststellen", entschuldigte sich der Beamte. Juwelier Kiau will der örtlichen Polizei keinen Vorwurf machen. "Die ist total überfordert." Im zuständigen Polizeirevier ist derzeit ein Viertel der Stellen nicht besetzt.

Die Schmuckdiebe kommen bei der Polizei wohl auf den Stapel: unerledigte Fälle. Dieser Aktenberg wächst stetig und überall. Bei der Polizei in Bremen ist er inzwischen auf über 8000 Fälle angewachsen. Die Beamten nennen ihn "die Bremer Halde". In Sachsen lagen bereits 2014 unvorstellbare 57.663 Fälle unbearbeitet auf Halde. Das musste das Innenministerium auf eine parlamentarische Anfrage hin eingestehen. "Wir bekämpfen die Kriminalität nicht mehr, wir verwalten sie nur noch", sagt der sächsische GdP-Landeschef Hagen Husgen.

Die zahlreichen neuen Herausforderungen haben nicht nur Auswirkungen auf die Schutzpolizei, die für die Sicherheit der Bürger zuständig ist. Sie bringen auch die Statik der Kriminalpolizei ins Wanken. In den vergangenen Jahren mussten alle Kommissariate Spezialisten an das Bundeskriminalamt abgeben oder an die Staatsschutzabteilungen der Länder. Meistens die Besten. Die Terrorabwehr bindet in ganz Deutschland mehrere Tausend Kriminalbeamte. In ihren alten Dienststellen wurden die Abkommandierten nicht ersetzt.

Das bekam im Sommer auch ein Ermittlerteam aus Nordrhein-Westfalen zu spüren. Zehn Monate lang war es auf der Jagd nach einer Einbrecherbande aus Osteuropa, Tag und Nacht. Es hatte 32 Telefone abgehört, neun Autos dauerhaft überwacht. Der Fall war so gut wie aufgeklärt: Das Team hatte insgesamt 18 Täter ermittelt, kannte den Boss und konnte die Geldströme nachvollziehen. Um den Fall wasserdicht und gerichtsfest abschließen zu können, benötigten sie zur letzten Beweissicherung nur noch die Unterstützung eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) bei der Observation. Es ging um wenige Tage. Doch der Gruppenführer des zuständigen MEK musste den Kollegen absagen. Er hatte gerade erfahren, dass seine Einheit zur Terrorabwehr an den Staatsschutz abkommandiert werde. Auf unbestimmte Zeit. Die Ermittler sind frustriert – und die Räuber noch immer aktiv.

Ermitteln unerwünscht

Auch bei der Kriminalpolizei ist die Personalausstattung auf Kante genäht, ohne jede Reserve. Wenn die Führung ihre Kräfte auf ein Thema konzentriert, tun sich an anderer Stelle Lücken auf. Das wird nun auch in Köln so kommen. Die Polizei hat eine Sonderkommission von 120 Beamten eingerichtet, um die Straftaten aus der Silvesternacht aufzuklären. Mit weniger Personal lassen sich die inzwischen über 500 Fälle vermutlich nicht bearbeiten. Doch Sebastian Fiedler, NRW-Landesvorsitzender beim Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), gibt zu bedenken: "Das sind mehr als zehn Prozent der gesamten Kriminalbeamten in Köln. Deren bisherige Arbeit bleibt jetzt liegen."

Streng genommen arbeitet die Polizei nach dem Legalitätsprinzip. Sie muss den Eierdieb genauso ernsthaft verfolgen wie den Mörder. So will es das Gesetz. Doch in der realen Welt muss die Polizei natürlich Prioritäten setzen. In Zeiten von Terrorbekämpfung, Rechtsextremismus und der Bewältigung des Flüchtlingszustroms steht die ganz normale Alltagskriminalität auf der Prioritätenliste ziemlich weit hinten. Wegen der Personalnot können die Ermittler Massendelikte überhaupt nicht mehr bearbeiten. Inzwischen gehört das zu den Alltagserfahrungen der Bürger. Anzeigen wegen Fahrraddiebstahl oder Wohnungseinbruch haben nur noch eine Funktion: ein Aktenzeichen für die Versicherung.

"Statt zu ermitteln, schreiben wir den ganzen Tag Fälle tot", sagt André Schulz, Vorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. "Plattmachen", "knicken", "lochen", "abheften", "totmachen" – so nennen es die Beamten. Das ist keine Überlebensstrategie überforderter Ermittler, sondern ihre Dienstpflicht. Denn in den meisten Bundesländern haben die Innenminister das "Plattmachen" angeordnet. Elf Bundesländer haben inzwischen die "standardisierte Bearbeitung von Massendelikten" angewiesen. Klingt harmlos und bedeutet im Klartext: Anzeigen wegen einfacher Körperverletzung, Diebstahl aus dem Auto, Sachbeschädigung, Fahrraddiebstahl, Wohnungseinbruch oder Ladendiebstahl werden nur noch weiterverfolgt, wenn der Täter bei der Anzeige bereits feststeht. Sonst nicht. Kein Polizist soll deswegen die Amtsstube verlassen oder einen Zeuge vernehmen. Ermitteln unerwünscht. Zum "Totmachen" werden die Fälle an die "Zentrale Anzeigenbearbeitung" überwiesen. Dort sitzen Sachbearbeiter, häufig nicht mal Beamte, deren einzige Aufgabe es ist, die Verfahren zwecks Einstellung an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln.

"Professionelle Kriminelle machen eine Chancen-Risiko-Analyse. Da kalkulieren sie die Schwäche der Polizei mit ein", sagt Oliver Huth, Spezialist für organisierte Kriminalität beim Bund Deutscher Kriminalbeamter. Die Folge: Seit 2007 hat die Zahl der Wohnungseinbrüche in Deutschland um gut ein Drittel zugenommen. Gleichzeitig ist die Zahl der Verurteilungen wegen Einbruchdiebstahl vor Gericht um etwa ein Viertel gesunken. Deutlich mehr Einbrüche, deutlich weniger Verurteilungen. In nicht einmal drei Prozent aller Einbrüche gelingt es der Polizei, einen Fall so wasserdicht aufzuklären, dass die Gerichte einen Täter auch tatsächlich verurteilen können. Einbruch und Diebstahl sind laut einer aktuellen Forsa-Umfrage die Straftaten, von denen die Menschen in Deutschland sich am meisten bedroht fühlen.

Kein Streifenwagen frei

Es gibt nur eine realistische Chance, Einbrecher zu schnappen: Die Bürger müssen die Täter selbst überführen. Im Sommer 2014 kam der 23-jährige Bonner Patrick Bell spät in der Nacht nach Hause. Vor der Garage der Nachbarn fiel ihm ein verdächtiger Mann auf. In der Gegend wird häufig eingebrochen, also weckte Bell seinen Vater und seinen Bruder. Sie alarmierten die Polizei und verwickelten den Verdächtigen in ein Gespräch. Über eine Viertelstunde plauderten sie mit ihm. Die Polizei kam nicht. Der Unbekannte grüßte und ging weiter. Später stellte sich heraus: Der Mann war tatsächlich in das Haus des Nachbarn eingebrochen. Kurz nach dem Gespräch mit den Bells machte er gleich den nächsten Bruch und wurde auf frischer Tat ertappt. Ein alter Bekannter der Polizei, mehrfach vorbestraft. Gegen fünf Uhr morgens fuhren die Bells ins Polizeipräsidium und identifizierten den Mann, der vor ihrer Haustür rumgelungert hatte. Später erklärte ein Polizeisprecher, warum die Bells 28 Minuten auf den Streifenwagen hatten warten müssen. Es habe in jener Nacht noch drei weitere Einsätze gegeben. Drei Einsätze in einer Nacht bringen die Polizei einer Stadt mit rund 300 000 Einwohnern an die Grenze. 2014 galt Bonn als "Hauptstadt der Einbrecher".

Bei den Bells kam die Polizei erst nach einer knappen halben Stunde. Zu einer 87-Jährigen aus Bochum kamen die Beamten gar nicht. Die Frau war von einem Trickbetrüger angerufen worden. Er behauptete, er sei ein Verwandter und brauche dringend 35.000 Euro. Der berüchtigte "Enkeltrick". Die Seniorin versprach, das Geld zu besorgen und sagte dem Mann, er solle wieder anrufen. Statt zur Bank zu gehen, rief sie die Polizei. Eine perfekte Gelegenheit, einen der Kriminellen auf frischer Tat zu schnappen. Doch die Gesetzeshüter mussten sich die Chance entgehen lassen. "Wir haben leider kein Personal", bekam die Seniorin zu hören, "sagen Sie dem Täter beim nächsten Anruf einfach, Sie hätten die Polizei informiert."

Dass die Polizei die vielen vermeintlich kleinen Straftaten nicht mehr verfolgt, ist nicht nur ärgerlich, sondern auch gefährlich. Auch dafür ist die Silvesternacht von Köln ein erschreckendes Beispiel. Entscheidend waren nicht allein die Fehler der Polizei am Jahresende, sondern die vielen Fehler des Systems der Strafverfolgung im gesamten Jahr davor. Über viele Monate machten Banden von Taschendieben mehrheitlich aus Nordafrika in der Kölner Innenstadt fette Beute. Taschendiebe zu schnappen und ihnen die Taten gerichtsfest nachzuweisen, erfordert einen enormen Ermittlungsaufwand. Darum werden die Diebe nur selten verfolgt und fast nie gefasst. Taschendiebstahl hat die niedrigste Aufklärungsquote aller Delikte in der Kriminalstatistik. Die Kölner Banden haben verstanden: Wir werden nicht bestraft. Unter Kriminologen herrscht Uneinigkeit, inwiefern Strafe eine abschreckende Wirkung hat. Einig sind sich indes alle Experten: Wenn Straftaten nicht verfolgt und nicht sanktioniert werden, fühlen die Täter sich ermutigt. "Die Täter lernen am Erfolg", sagt Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Als die Taschendiebe in der Silvesternacht auf die Polizisten trafen, wussten sie: Von denen droht keine Gefahr.

Fahrraddiebstahl, Wohnungseinbruch, Ebay-Betrug oder Taschendiebstahl – die Schwelle, über der die Polizei überhaupt noch tätig werden kann, diese Geringfügigkeitsschwelle wird immer höher. Bei der Berliner Kripo blieben im vergangenen Jahr mehr als 300 Fälle von Kinderpornografie unbearbeitet. Wegen Personalnot. 2014 waren es sogar über 600 Fälle.

Die KTU braucht 16 Monate

Vor einem Jahr schlug in Bonn der Leiter des auf Cyberkriminalität spezialisierten Kriminalkommissariats Alarm. Seine Mitarbeiter seien am Ende ihrer Kräfte. Von den jährlich rund 10.000 Fällen müssen fast 20 Prozent liegen bleiben. Mit der Auswertung von Festplatten sind die Beamten im Rückstand. Um etwa 16 Monate. Dem Bund Deutscher Kriminalbeamter sind auch Dienststellen mit noch längeren Wartezeiten bekannt. Im Fernsehkrimi verlangen die Ermittler von den Kollegen der KTU (Kriminaltechnischen Untersuchung) die Ergebnisse "spätestens morgen früh auf dem Schreibtisch". Im wahren Leben geht es dabei meist um einen Morgen irgendwann im nächsten Jahr. Aus Personalnot lässt etwa die Hamburger Kripo Festplatten von privaten Unternehmen auswerten. Da sitzen keine ausgebildeten Beamten vor dem Bildschirm, die von ihren Vorgesetzten und ihren Kollegen kontrolliert werden, sondern angeheuerte Dienstleister, die sich den ganzen Tag Kinderpornos anschauen.

Informations- und Kommunikationstechnologie ist leider keine Kernkompetenz der deutschen Polizei. "Es existiert noch immer kein einheitliches Fall-Bearbeitungssystem", klagt André Schulz vom BDK, "das erschwert die Zusammenarbeit enorm." Auf die Informationen, die beispielsweise die nordrhein-westfälische Polizei zu den Tätern der Silvesternacht in Köln ermittelt, hat nur die Polizei in NRW Zugriff. Bundesweit wichtige Daten müssen in jedem Bundesland neu abgetippt werden. Der technologische Rückstand in der Kommunikationstechnologie ist neben der Personalnot der zentrale Schwachpunkt der Kriminalpolizei.

"Heute gibt es kein Delikt mehr, bei dem IT keine Rolle spielt", sagt Schulz. Bei jeder Hausdurchsuchung werden Computer sichergestellt mit einigen Gigabyte an Daten. Doch schon den Inhalt eines Smartphones auszuwerten kostet die Ermittler mindestens einen Tag. Hinzu kommt die Cyberkriminalität, ein neues, gigantisches Betätigungsfeld für Kriminelle. Für solche zusätzlichen Aufgaben sind bei der Polizei aber keine zusätzlichen Kräfte vorgesehen. "Bei der Cyberkriminalität kratzen wir nur an der Oberfläche", sagt Oliver Huth, der Experte für organisiertes Verbrechen beim BDK.

Doch nicht nur Cyberkriminalität, die hohe Schule, überfordert die Polizei. Schon bei einfachen Ebay-Betrügern kommt sie an ihre Grenzen. Neulich in Schleswig-Holstein: Ein Mann kommt auf die Wache. Sein Fahrrad wurde geklaut, und nun hat er es bei Ebay entdeckt. Gerade jetzt steht es zum Verkauf. Der Beamte versucht, ins Internet zu kommen. Es ist mitten am Tag. Da sind die Internetverbindungen bei der schleswig-holsteinischen Polizei besonders lahm. Siebeneinhalb Minuten später steht endlich die Verbindung. Dann wartet er auf Antwort von Ebay. Irgendwann gibt der Polizist schließlich auf und zückt sein privates Smartphone. "Uns ist es lieber, wenn die Leute vorher anrufen", sagt der Beamte später zum stern, "dann raten wir ihnen, die Sachen vorher auszudrucken und mitzubringen."

Die Ausbildung dauert drei Jahre

Innere Sicherheit war in den vergangenen Jahren kein zentrales Thema der Politik. Die Wahl- und Parteiprogramme hatten dazu nichts Neues anzubieten. Doch spätestens mit der Silvesternacht ändert sich das. Bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wird der Zustand der Polizei eines der wahlentscheidenden Themen werden. Alle Parteien fordern nun, die Ausstattung der Polizei mit Personal und Ausrüstung zu verbessern, und zwar schnell.

Neue Fahrzeuge, neue Pistolen, neue Schutzwesten oder schnelle Internetleitungen können die Innenminister in einem überschaubaren Zeitraum organisieren. Obwohl sie dabei die komplizierten Ausschreibungsregeln beachten müssen. Doch zusätzliches Personal, die entscheidende Ressource jeder Polizei, können sie beim besten Willen so schnell nicht zur Verfügung stellen.

Anders als normale Arbeitgeber kann die Polizei nicht bei Bedarf zusätzliche Kräfte vom Arbeitsmarkt einstellen. Jeder einzelne Beamte muss von der Polizei selbst ausgebildet werden. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Die Ausbildungskapazitäten sind schon jetzt bis an die Grenzen ausgelastet, um wenigstens die Beamten zu ersetzen, die in Rente gehen.

Wie bei allen Behörden ist auch bei der Polizei die Belegschaft überaltert. "Bei der Kriminalpolizei gehen in den kommenden Jahren mehr Beamte in Pension, als neu eingestellt werden", sagt André Schulz vom BDK. Um das Personal aufzustocken, muss die Polizei also zuerst ihre Ausbildungskapazitäten deutlich erhöhen. Die Bundespolizei baut darum gerade ein neues Ausbildungszentrum in Bamberg. Es wird einige Jahre dauern, bis alle Bundesländer flächendeckend ihre Ausbildungskapazitäten ausgebaut haben. Erst dann beginnt die dreijährige Ausbildung für die zusätzlichen Beamten.

Mit der Beseitigung der Personalnot bei der deutschen Polizei ist in diesem Jahrzehnt nicht zu rechnen.

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