Es gibt Momente, für die es keine Historiker braucht, um sie für historisch zu erklären. Sonntag, wenige Minuten nach elf Uhr, im Plenarsaal des Deutschen Bundestags, einziger Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung. Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilt den russischen Überfall auf die Ukraine. Er kritisiert Wladimir Putins Aggression als das, was sie ist: ein Angriff auf die Freiheit aller Demokratien. "Durch nichts und niemanden zu rechtfertigen."
Scholz will es nicht bei Worten belassen. Er will, das wird schon nach wenigen Sätzen klar, jetzt Führung zeigen. Es wurde auch langsam Zeit. Nicht, weil irgendwer bei ihm Führung bestellt hätte – sondern weil sie seine verdammte Pflicht ist.

Kein Zweifel, es ist eine historische Rede
In einer halben Stunde schreddert Scholz jahrzehntelange Überzeugungen der deutschen Politik. In der Außenpolitik. In der Verteidigungspolitik. In der Energiepolitik. Er spricht von einer "Zeitenwende". Kein Zweifel, es ist eine historische Rede.
Einen Tag, nachdem die Bundesregierung beschlossen hat, nun doch Waffen an die Ukraine zu liefern, räumt Scholz im Bundestag ab, was in der Vitrine liebgewonnener Gewissheiten sonst noch so rumsteht und langsam Staub ansetzt. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, wie wir sie kannten – sie gibt es nun nicht mehr.
Scholz verspricht zusätzlich 100 Milliarden Euro aus einem „Sondervermögen“ für die Bundeswehr. Es soll für Rüstungsinvestitionen genutzt werden. Die Summe ist doppelt so hoch wie das Budget im Bundeshaushalt. Deutschland werde künftig sogar mehr als die versprochenen zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung investieren. Bislang war dieses Ziel nur anvisiert, lediglich eine Absichtserklärung, die man nie wirklich beabsichtigte zu erfüllen. Der Kanzler bekennt sich auch zu bewaffneten Drohnen. Und zur Verantwortung Deutschlands bei der nuklearen Teilhabe.
Scholz mutet der SPD viel zu
Man könnte nun Vergleiche bemühen. Zu 1998 etwa, als die Grünen ihren Pazifismus wegen des Kosovokriegs beerdigen mussten, noch bevor sie tatsächlich mit der SPD regierten. Oder zu 2011, als Angela Merkel nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima den Ausstieg aus Atomkraft erklärte, deren Laufzeit sie kurz zuvor erst verlängert hatte. Schließlich verlangt Scholz mit seinem Kurswechsel in erster Linie seiner eigenen Partei viel ab, allen voran ihrem Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der vor 30 Jahren zu Atomwaffen und internationaler Politik promovierte – und seine Skepsis gegenüber militärischer Aufrüstung und Abschreckung nie abgelegt hat.
Aber solche Vergleiche sind zu kurz gegriffen. Sie fassen nicht, was an diesem Sonntag wirklich passiert ist. Die Scholzsche Zeitenwende wird dieses Land verändern. Und wie das häufig so ist bei radikalen Veränderungen, lässt sich heute nur erahnen, was das wirklich bedeutet.
Ein größeres Engagement Deutschlands, auch militärisch, wird die Krisen der Welt näher nach Deutschland bringen – insbesondere die sich zuspitzende Auseinandersetzung des Westens mit Russland. Hier treffen sie auf eine Gesellschaft, die vollkommen unvorbereitet ist auf das Leid und die Zumutungen, die damit verbunden sein können. Die es sich in Jahrzehnten des Wohlstands in einer gewissen Weltvergessenheit bequem gemacht hat. Und in der über die Rolle der Bundeswehr allenfalls dann diskutiert wird, wenn die Truppe mal wieder mit einem Nazi-Skandal auffällt.
Historische Schuld bedingte militärische Zurückhaltung
Es war die Grundüberzeugung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, dass aus historischer Schuld besondere Verantwortung erwächst. Dass sich ein Land, das zwei Weltkriege angezettelt hat, in militärischer Zurückhaltung übt. Dass es auf andere Art und Weise seinen Beitrag zum Frieden in der Welt leistet. Dass Wandel durch Handel funktionieren kann. Und dass man als größte Volkswirtschaft Europas seiner internationalen Verantwortung gerecht wird, wenn man am Ende die Zeche zahlt.
Nun ist es keine besonders neue Erkenntnis, dass man das auch ganz anders sehen kann. Dass die Lehre aus dem Faschismus vielleicht nicht sein kann, andere Länder bei der Verteidigung ihrer Freiheit und Demokratie gegen einen autokratischen Aggressor allein zu lassen. Und dass es auch in einer ökonomisch immer enger verbundenen Welt Staaten gibt, die ihre Einflussgebiete mit den Mitteln der Mafia ausweiten wollen: mit Gewalt und Erpressung. Was auch immer das ihre Volkswirtschaft und die eigene Bevölkerung kosten mag.
Es gibt eine ganze Reihe von Politikwissenschaftlerinnen und Historikern, die in den vergangenen Jahren immer wieder daraufhin gewiesen haben. Sie wurden in Deutschland kaum gehört. Vor zehn Jahren sagte der polnische EU-Abgeordnete Jacek Saryusz-Wolski: "Wir haben keine Angst vor einem mächtigen Deutschland, wir haben Angst vor einem untätigen Deutschland."
Deutschland geht ersten Schritt zu einer Führungsmacht
Es hat einen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gebraucht, damit diese Erkenntnis in der Bundesregierung ankommt. Man kann nur spekulieren, wie groß der Druck der internationalen Partner war, den Scholz und sein Team in den vergangenen Tagen zu spüren bekamen. Wie düster die Ecke internationaler Isolation gewesen sein muss, in die sich die Ampelkoalition fast gestellt hätte.
Mit seiner Rede am Sonntag hat Scholz nun allerdings mehr getan, als dem Druck nachzugeben. Er hat nicht viel drin gelassen in der Vitrine der liebgewonnenen Gewissheiten. Mit seiner Regierungserklärung geht die Bundesregierung einen ersten Schritt, wirklich die Führungsrolle anzunehmen, die im richtigen Verhältnis zu den wirtschaftlichen Ressourcen Deutschlands steht. Für die Zukunft Europas ist das umso wichtiger, sollten die USA nach einer erneuten Wahl Donald Trumps zum Präsidenten als Führungsmacht des Westens ausfallen.
"Ich bin liberal, aber nicht doof", hat Scholz einmal gesagt, als er Innensenator in Hamburg wurde, sein erstes Amt in einer Regierung. Es ging damals um kriminelle Jugendliche. Am Sonntag betont er, auch in der extremen Lage sei es Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offen zu halten. Alles andere sei unverantwortlich. Man könnte auch sagen: Ich bin für Frieden, aber ich bin nicht naiv.
Die Regierung scheint sehr geschlossen zu agieren
Bei so viel Außen- und Verteidigungspolitik geht fast unter, dass Scholz auch die Energiewende an veränderte geopolitische Realitäten anpasst. Er kündigte an, man werde die Gasvorräte aufzustocken und zwei Terminals für Flüssiggas zu bauen. "Wir werden die Abhängigkeiten von Energie-Lieferanten verringern."
Seine Regierung scheint da, wie in allen anderen Fragen, geschlossen zu agieren. FDP-Vizevizekanzler Finanzminister Christian Lindner sagte in seiner Rede: "Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien." Die Zeitenwende hat nicht nur den Kanzler erfasst.