Sozialer Pflichtdienst "Frechheit", "Falscher Ansatz", "Fehl am Platz" – Ampel-Jugendorganisationen nehmen Steinmeier-Idee auseinander

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier regt soziale Dienstpflicht an
Nanu, geht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hier mit gutem Beispiel für eine soziale Dienstpflicht voran? Nicht ganz, das Bild entstand bei einem Besuch Steinmeiers in Rottweil, wohin er im Juni für drei Tage seinen Amtssitz verlegt hatte
©  Denzel, Jesco/BPA / DPA
Es klingt eigentlich ganz überzeugend: soziale Dienstpflicht. Bundespräsident Steinmeier hält es für eine gute Idee, junge Menschen zu einem sozialen Pflichtdienst heranzuziehen. Das sehen die Jugendorganisationen der Ampel-Parteien anders. Ganz anders!

Er wünsche sich, "dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen", hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der "Bild am Sonntag" gesagt. Nun denn: Die Debatte hat er bekommen. Allerdings mit einem Ergebnis, das den Bundespräsidenten kaum freuen dürfte. Denn seine Idee, dass sich junge Menschen in Deutschland für einen gewissen Zeitraum regelhaft "in den Dienst der Gesellschaft stellen", ist nahezu unisono auf scharfe Ablehnung gestoßen.

Egal ob Grün, Gelb oder Rot: Kein Spitzenpolitiker aus der Ampel-Koalition konnte der Idee des Bundespräsidenten etwas Positives abgewinnen. Die beiden zuständigen Ministerinnen, Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), hatten sich bereits am Sonntag strikt gegen Steinmeiers Vorschlag positioniert. Heute folgten mit SPD-Chefin Saskia Esken und Grünen-Chefin Ricarda Lang auch die Co-Vorsitzenden der beiden großen Ampel-Parteien. Lediglich von der Union kam so etwas wie verhaltene Zustimmung. Ein verpflichtendes Dienstjahr für junge Menschen könne "viele Vorteile haben und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen", so CDU-Vorstandsmitglied Serap Güler auf Twitter.

Erstaunlich wenig zu hören waren dabei bislang die Stimmen der Betroffenen. Was denken eigentlich diejenigen über den Vorschlag, über deren Kopf gerade wieder einmal eine Debatte geführt wird? Der stern hat deshalb die Jugendorganisationen aller im Bundestag vertretenen Parteien um ihre Meinung zu Steinmeiers Vorschlag gebeten. Das Erstaunliche: Die Reaktionen der jungen Parteivertreter fallen noch weitaus vernichtender aus. "Abstrus und aus der Zeit gefallen" (Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal). "Falscher Ansatz" (Grüne-Jugend-Bundessprecherin Sarah-Lee Heinrich). "Fehl am Platz wie selten zuvor" (Junge Liberale Vorsitzende Franziska Brandmann). "Frechheit" (Linksjugend Bundessprecher Henrik Spieler.)

Steinmeier-Idee einer sozialen Dienstpflicht stößt auf scharfe Ablehnung

Insbesondere Steinmeiers Herleitung seiner Idee treibt die Jungpolitiker auf die Zinne. "Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen", hatte der Bundespräsident sinniert. Und erntet damit scharfen Widerspruch der Jungpolitiker: "Egal ob auf Fridays for Future-Demos, in Einrichtungen für Geflüchtete oder bei digitalen Initiativen wie Freifunk – mehr als 63 Prozent der jungen Menschen engagieren sich bereits auf vielfältige Art und Weise. Jetzt plötzlich einen Pflichtdienst einzufordern, das ist vermessen und ein Schlag ins Gesicht aller jungen, engagierten Menschen", so Juso-Vorsitzende Rosenthal. Die Jungen Liberalen ärgert es, "wenn ältere Personen die Notwendigkeit einer Dienstpflicht damit begründen, die junge Generation müsse mal wieder 'Respekt und Anstand' lernen", wie ihre Vorsitzende Franziska Brandmann sagt. Und Linksjugend-Sprecher Spieler urteilt bündig: "Es ist die Jugend, auf deren Kosten die systematischen Probleme des sozialen Sektors geleugnet werden."

Die Jungpolitiker eint weitgehend der Verdacht, dass junge Menschen hier zu Lückenbüßern eines maroden Systems gemacht werden sollen, dessen Versagen sie nicht zu verantworten haben. "Schon jetzt werden FSJ-Stellen (FSJ = freiwilliges soziales Jahr. Anmerkung der Redaktion) häufig dazu genutzt, Lücken aufzufüllen, wo ein Mangel an Fachkräften herrscht – wie etwa in der Altenpflege", so Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin der Grünen Jugend. Statt eines Pflichtdienstes in Krankenhäusern, Pflegeheimen und sozialen Einrichtungen brauche es laut Juso-Vorsitzende Rosenthal "mehr massive Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, sodass der ganze Bereich attraktiver wird".

Derzeit leisten nach Angaben der Bundesregierung annähernd 100.000 Menschen einen Jugend- oder Bundesfreiwilligendienst. Speziell für junge Menschen gibt es das Freiwillige Soziale Jahr und den Internationalen Jugendfreiwilligendienst. Diese Angebote stehen jungen Frauen und Männern unabhängig von Schulabschluss, Herkunft oder Einkommenslage bis zum Alter von 27 Jahren offen. Daneben gibt es den Bundesfreiwilligendienst als Angebot für Menschen jeden Alters.

Umfrage: 49 Prozent der jungen Erwachsenen gegen allgemeine Dienstpflicht

Einer Umfrage zufolge sehen die Betroffenen selbst eine allgemeine Dienstpflicht eher skeptisch. 49 Prozent der 16- bis 26-Jährigen sind demnach dagegen, 40 Prozent befürworten eine solche Pflicht, wie eine Befragung der TUI Stiftung zeigt. Das Ergebnis ist Teil der noch unveröffentlichten Jugendstudie 2022 der Stiftung und lag der Deutschen Presse-Agentur vor. Gefragt wurden die Teilnehmer, ob sie die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für alle Bürger – entweder im Militär oder in einem anderen gemeinnützigen Bereich – befürworten oder ablehnen würden.

14 Prozent befürworten demnach die Einführung eines solchen Dienstes "voll und ganz", 26 Prozent "eher". 24 Prozent lehnen eine Pflicht "voll und ganz" ab, 25 Prozent "eher". Auf dem Land sei die Zustimmung im Vergleich zur Stadt signifikant – um 8 Prozentpunkte – höher, hieß es von der Stiftung. In Deutschland liege die Zustimmung außerdem leicht über dem europäischen Durchschnitt.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Der stern hat für die Recherche die Jugendorganisationen aller im Bundestag vertretenen Parteien um eine Stellungnahme zum Thema sozialer Pflichtdienst gebeten. Bei Redaktionsschluss fehlten am Abend noch die Antworten von der Jungen Union und der AfD.

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