SPD Steinmeier, der neue Kanzlerkandidat

In Brakelsiek, seinem Heimatort, nennen sie ihn "Prickel", dort spielte er in seiner Jugend Fußball im defensiven Mittelfeld. Nun steht sein Aufstieg fest: Frank-Walter Steinmeier rückt in die Sturmspitze vor - als Kanzlerkandidat der SPD. Kann er das? Steinmeiers Lebensgeschichte macht skeptisch.

SPD-Chef Kurt Beck traut ihm allerhand zu.Er könne Wahlen gewinnen, "ganz sicher", sagte Beck schon im April dieses Jahres. Damals war Außenminister Frank-Walter Steinmeier noch einer von zwei möglichen Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten. Jetzt ist er der einzige. Ob er tatsächlich Wahlen gewinnen kann? Steinmeier hat das bislang nicht beweisen müssen. Vermutlich auch nicht beweisen wollen.

Frank-Walter Steinmeier ist keine Rampensau, kein Mann der großen Gesten. Im Fußballclub seines Heimatorts Brakelsiek spielte er als Jugendlicher im defensiven Mittelfeld. Mal auf der linken Seite, mal auf der rechten, je nach dem, wo er gerade benötigt wurde. "Dem Frank hat man gesagt: Den deckst du! Und dann hat er den ausgeschaltet", erzählt sein ehemaliger Trainer Hans Null stern.de. Fleißig, zuverlässig und pflichtbewusst sei er gewesen, der "Prickel", wie sein Spitzname damals lautete.

Jugendclub statt Apo

Ansonsten: keine besonderen Vorkommnisse. Seine Eltern, ein Tischler und eine Industriearbeiterin, die es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht haben, mussten sich um den Jungen keine Sorgen machen. Helmut Kullmann, Steinmeiers Lehrer an der Volkshochschule, beschreibt seinen ehemaligen Schüler als "sehr nett und ausgleichend." Natürlich bekam er eine Empfehlung für das Gymnasium. Seine Jugendfreunde sagen, er sei selbst bei Besäufnissen nie aus dem Rahmen gefallen. Trotzdem habe man mit dem "Frank" immer viel Spaß gehabt. Aha.

Und was ist mit Politik? Was hat ihn getrieben, seinen Zorn entfacht, ihn dazu motiviert, sich einmischen zu wollen? Steinmeier, Jahrgang 1956, trat schon als Schüler den Jusos bei, just zu jenen Zeiten, als sich die Apo mit dem "Schweinestaat" fetzte, als es um alternative Lebensentwürfe, Utopien und die Nazi-Vergangenheit ging. Von "Prickel" ist überliefert, dass er dabei half, in Brakelsiek einen Jugendclub zu gründen. Er vermittelte zwischen jenen, die einfach nur Party machen wollten und anderen, die den Nachwuchs pädagogisch unter die Fuchtel nehmen wollten. Die politische Sozialisation von Spitzenpolitikern hat gewöhnlich spektakulärere Momente.

Die dunkle Seite des Verwalters

Wehrdienst, Jurastudium, Promotion. Titel: "Bürger ohne Obdach - zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum; Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit." 1991 wird er Medienreferent in der niedersächsischen Staatskanzlei. Zwei Jahre später macht ihn sein Mentor Gerhard Schröder zum Leiter seines persönlichen Büros. Schröder und Steinmeier, die Rampensau und der Defensivspieler. Eine Idealkombination, die über viele Jahre stabil bleiben sollte.

Während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders beackert Steinmeier das, was Schröder meistens liegen ließ: die Akten. Als Chef des Bundeskanzleramts wird er zum obersten Verwalter der Macht, ein Mann, der leise und effizient hinter den Kulissen agiert, und der in Hintergrundgesprächen vor allem einen Eindruck hinterlässt - "extrem langweilig", so einer der Geplagten. Sein Privatleben, Frau und Tochter, hatte Steinmeier sowieso zur publizistischen Tabuzone erklärt.

Steinmeiers Wirken bekam erst nach und nach Kontur. Er entwirft die Agenda 2010, jenes Sozialsparprogramm, das Schröder den Rückhalt in der eigenen Partei und schließlich die Kanzlerschaft kostet - und jenen Dämon belebt, unter dem die SPD heute bitter leidet: die Linkspartei. Außerdem wird häppchenweise bekannt, wie skrupellos Steinmeier im Kanzleramt vermeintliche deutsche Sicherheitsinteressen verfolgte. Den Deutsch-Türken Murat Kurnaz ließ er, wie der stern mehrfach berichtete, im US-Gefangenenlager Guantanamo schmoren. Auch in den Fällen Abdel Halim Khafagy und Mohammed Haydar Zammar spielte Steinmeier eine dubiose Rolle. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages befasst sich mit diesen US-Entführungen im Nachgang der Anschläge des 11. September 2001. Steinmeier wurde mehrfach schwer belastet - und konnte sich doch immer wieder herauswinden. Gleichwohl: Diese Mühlsteine hängen dem Kandidaten Steinmeier um den Hals.

Training in der Provinz

Seit einem Jahr trainiert Steinmeier. Er, der nie gewählt, sondern immer nur berufen wurde, absolviert öffentliche Auftritte in der Provinz. Reden, Schulterklopfen, Posieren - er muss den Staub der Akten abschütteln, um für die Bürger wählbar zu sein. Zwar hat Steinmeier blendende Umfragewerte, er war den Deutschen schon immer sympathischer als Kurt Beck. Aber diesen Bonus verdankt Steinmeier seinem Amt: Außenminister müssen sich nicht im Klein-Klein der Tagespolitik verschleißen, sie umspielt die Grandeur der großen weiten Welt und sie gelten per se als Aushängeschilder der Nation. Aus dieser komfortablen Kulisse muss Steinmeier nun heraustreten.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Ein Schritt, den er schon früher hätte gehen können. Aber Steinmeier ist vorsichtig, er scheut das Risiko. Er hat sich nicht quergelegt, als Beck begann, die Agenda 2010 zu verwässern. Er hat nie Ellenbogen gezeigt, wenn ihm die Kanzlerin außenpolitisch die Schau stahl. Und er hat sich die Kanzler-Kandidatur nicht erobert. Sie ist ihm zugefallen, weil die SPD keinen besseren hat. Nun wird er kämpfen müssen - nicht aus der Defensive sondern im Sturm.

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