Zwischenruf Steinmeiers Guantánamo

Der Außenminister hat sich in der Kurnaz-Affäre durch wirre Rechtfertigungen in Widersprüche verwickelt. Die Kanzlerin selbst hat ihn politisch widerlegt. Doch er bleibt im Amt - denn daran haben SPD wie Union Interesse stern Nr. 06/2007

Er mag kämpfen, wie er will: Mitstreiter mobilisieren, Medien munitionieren, Dossiers dementieren. Politisch glaubwürdig wird Frank-Walter Steinmeier dadurch nicht mehr. Denn er selbst wird dementiert, unwiderlegbar - durch die eigene Kanzlerin. Ausgerechnet die angeblich so amerikahörige Angela Merkel hat sich für den in Bremen geborenen Türken Murat Kurnaz eingesetzt, persönlich, und ihn nach fast fünfjährigem Martyrium aus Guantánamo Bay freibekommen. Das ist und bleibt der Schandfleck auf dem so kunstvoll gestalteten Ruhmesblatt rot-grüner Friedens- und Menschenrechtspolitik.

Der Außenminister, unheimlich schlecht beraten, hat dagegen eine widersprüchliche, wirre Verteidigungsstrategie gesetzt, die seine Not noch größer statt kleiner macht. Fünf Rechtfertigungen streute er - oder ließ er streuen, durch publizistische Helfer. Es habe damals, im Herbst 2002, als er im Kanzleramt Gerhard Schröders die Rückkehr des Inhaftierten nach Deutschland verweigerte, gar kein "offizielles Angebot" der Amerikaner gegeben, ließ er sich selbst vernehmen - und bestätigte gerade durch die Betonung auf "offiziell", dass es eine inoffizielle Offerte gab, bloß nicht auf Büttenpapier.

Warum eigentlich hätte sich die Regierung für einen Türken verwenden sollen, wurde daneben lanciert, zugleich aber auch: Man habe sich ja für ihn eingesetzt, leider erfolglos. Einerseits: Der "Bremer Taliban" sei gar nicht so harmlos, wie er heute dargestellt werde. Andererseits: Für "Agentenspiele" in islamistischen Kreisen habe er nach seiner Freilassung nicht getaugt, denn er gehöre dem Milieu ja gar nicht an. Erst jetzt nahm Steinmeier - sechstens! - Zuflucht zum einzig denkbaren, noch einigermaßen schlüssigen Argument: Ein Jahr nach dem Anschlag vom 11. September 2001, in ganz anderen Zeiten also, habe man sich im Zweifel für die Sicherheit vor Terror entschieden - und er würde "heute nicht anders entscheiden". Der trotzige Nachsatz freilich war gleich wieder eine Drehung zu viel. Was, bitte, hat er entschieden, wenn es gar kein "offizielles Angebot" gab? Halsbrecherisch.

Die Kanzlerin hat anders entschieden. Sie hat bewiesen, was möglich und geboten war. Am 22. November 2005 kam Merkel ins Amt. Am 19. Dezember, sie plante ihre erste Reise zu George W. Bush, erhielt sie einen Brief von Kurnaz-Anwalt Bernhard Docke, in dem er "dringend um Hilfe" bat, da es zwischen Deutschen und Türken "eine diplomatische und politische Versorgungslücke" für Kurnaz gebe. Man zog im Kanzleramt die Akten. Schon drei Tage später hatte Docke schriftliche Antwort von Merkels außenpolitischem Berater Christoph Heusgen. Am 9. Januar 2006 attackierte Merkel das Lager Guantánamo in einem "Spiegel"Interview: "Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden." Am folgenden Tag schickte Docke noch einmal ein Fax an die Kanzlerin.

Die SPD hat keinen Aussenpolitiker mehr, der ihn ersetzen könnte. Eine Entschuldigung bei Kurnaz wagt Steinmeier nicht - er fürchtet Forderungen nach Entschädigung

Drei Tage später saß Merkel bei Bush im Oval Office, präpariert dafür, dass der Präsident den Fall ansprechen würde. Das tat er aber nicht, also machte sie Kurnaz zum Thema. Aus Washington zurück, informierte Heusgen den Anwalt. Nun betrieben Georg Boomgaarden, Staatssekretär im Auswärtigen Amt aus der Zeit Joschka Fischers, und die deutsche Botschaft in Washington die Entlassung von Kurnaz. Fischer war dafür schon früher eingetreten, aber Steinmeier und Innenminister Otto Schily hatten ihn hängen lassen. Am 24. August 2006 war Kurnaz frei - seine anschließende Beobachtung durch den Verfassungsschutz war eine Bedingung der USA.

Steinmeier bleibt dennoch im Amt. Tauchen nicht noch atemberaubende Akten auf, wird er den Fall Kurnaz überstehen. Denn die SPD hat keinen profilierten Außenpolitiker mehr, der den dritten Mann im Kabinett ersetzen könnte. Schily erträgt schon niemand in den eigenen Reihen, und Günter Verheugen hat sich in Brüssel durch eine Affäre selbst verbrannt. Die Sache liefe auf Kurt Beck hinaus, doch der SPD-Chef schätzt seine Freiheit außerhalb des Kabinetts. Sein abrupter Wechsel nach Berlin würde zudem die Macht in Rheinland-Pfalz, einem der letzten SPD-regierten Länder, unterspülen und Franz Müntefering die Vizekanzlerschaft kosten. Außerdem dürfte eine Kabinettsumbildung Debatten auch über Schwachstellen der Union, besonders der CSU, auslösen - zu viel für die fragile Statik der Großen Koalition.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Der Kanzlerin kommt ein entzauberter Steinmeier ohnehin gerade recht. Der Außenminister gilt nicht mehr als Hüter glanzvoller rot-grüner Friedenspolitik - nebenbei gefragt: Hat er Schröder mal den Fall Kurnaz vorgetragen? -, sondern als Inkarnation ihrer Doppelbödigkeit. Für einen Konflikt mit Merkel fehlt ihm auf Sicht die Kraft. Denn sie weiß alles über den Fall Kurnaz, mehr als die Öffentlichkeit. Und eine befreiende Geste, eine Entschuldigung bei Kurnaz, wagt Steinmeier nicht. Er fürchtet Entschädigungsforderungen. Übrigens: Die SPD hat nur noch einen einzigen Kanzlerkandidaten - Kurt Beck. Steinmeier sitzt in Guantánamo.

Denn im Kleinen steckt Grosses. Nicht weniger als die Öffnung der Beamtenbesoldung für Konjunktur, Erfolg und Leistung des Staatsapparats. Das Brandenburger Modell ist nur eine Spielart - andere fantasievolle Varianten lassen sich denken. Sie könnten den gesamten Staat modernisieren. Warum etwa sollten die Staatsdiener - Beamte, Angestellte und Arbeiter - nicht persönlich für Einsparungen und Überschüsse ihrer Behörden interessiert werden? Warum sollten sich Behörden - bei Bund, Ländern und Gemeinden - nicht Ziele dafür setzen, nach denen dann abgerechnet wird? Warum sollte die Besoldung der Staatsdiener nicht sehr viel stärker differieren, als das heute der Fall ist - nicht nur zwischen Bund, Ländern und Kommunen, sondern auch zwischen verschiedenen Behörden ein und desselben Landes oder derselben Gemeinde?

Um es konkreter zu fassen: Warum sollten zum Beispiel die Personalberater der Bundesagentur für Arbeit nicht durch Prämien von erfolgreichen Vermittlungen Arbeitsloser, insbesondere problematischer Langzeitarbeitsloser, profitieren? Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Auch in Wirtschaft und Politik nicht. Die Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer steht auf der Agenda der Großen Koalition. Die Umformung des Weihnachtsgeldes zur Gewinnbeteiligung ist eine Option. Große überbetriebliche Fonds zur Kapitalbeteiligung, politisch höchst kompliziert, wären dann weniger zwingend, wenn diese Option in Branchenverträgen zöge - und die Staatsdiener über die Steuern beteiligt würden. Kein Arbeitnehmer wäre dann ausgeschlossen. Das Brandenburger Modell lässt sich ja auch noch nach Steuerarten verfeinern. Wichtig ist das Prinzip. Das hat sich durchgesetzt, beispielgebend. Ex oriente lux!

print
Hans-Ulrich Jörges