Herr Professor Güllner, was macht den Erfolg des alten und neuen SPD-Bürgermeisters Olaf Scholz in Hamburg aus?
Dass er nicht auf soziale Umverteilung setzt, sondern auf die Stärkung der Wirtschaftskraft der Region. Damit hat er das Vertrauen nicht nur des hanseatischen Bürgertums gewonnen, sondern auch das der angestammten sozialdemokratischen Wählerschaft. Denn mit einer starken Wirtschaft schafft er auch eine vernünftige finanzielle Basis für Bildung, Kultur und Sozialpolitik. Das hat sich ausgezahlt: Rechnet man die bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg abgegebenen gültigen Stimmen in Wähler um, dann zeigt sich, dass rund 319.000 Hamburger Wahlberechtigte die SPD gewählt haben. Das sind 30.000 oder 11 Prozent mehr als bei der Bundestagswahl im September 2013.
Manfred Güllner im stern-Interview
Der Forsa-Chef analysiert das Ergebnis der Hamburger Bürgerschaftswahl
Warum hat die CDU ein so schlechtes Ergebnis eingefahren?
Seit Adenauers Zeiten hat die CDU auf Bundesebene Schwierigkeiten, ihr Wählerpotenzial in den Ländern an die Urnen zu bewegen. Die Hamburger CDU wurde bei der Bürgerschaftswahl von rund 111.000 Wahlberechtigten gewählt. Gegenüber der Bundestagswahl 2013 ist das ein Wählerschwund von fast 175.000 oder 61 Prozent. Während SPD und CDU mit 22,5 beziehungsweise 22,3 Prozent - bezogen auf alle Wahlberechtigten - bei der Bundestagswahl gleichauf lagen, wurde die SPD bei der Bürgerschaftswahl am Sonntag mit 25,0 Prozent - bezogen auf alle Wahlberechtigten - von fast dreimal so vielen Wählern gewählt wie die CDU mit 8,7 Prozent.
7000 Wähler sollen die Hamburger Christdemokraten an die rechtspopulistische AfD verloren haben. Ein Alarmzeichen?
Keineswegs. Die von der ARD am Wahlabend verbreitete Zahl von 7000 früheren CDU-Wählern, die zur AfD abgewandert seien, entpuppt sich, sollte diese Zahl überhaupt stimmen, angesichts des riesigen CDU-Mobilisierungsdefizits vor Ort - nämlich minus 175.000 - als marginale Größe. Die These von den angeblich von der CDU zur AfD gewanderten Wähler wird vollends fraglich, wenn man sich vor Augen hält, dass die AfD bereits bei der Bundestagswahl 2013 von 37.000 Hamburger Wahlberechtigten gewählt wurde - bei einer Wahl also, als die CDU mit 286.000 Stimmen ein hervorragendes Wahlergebnis erzielte und niemand von einem politischen Vakuum am rechten Rand redete, das Kanzlerin Angela Merkel angeblich hinterlassen habe.

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Sind Sie überrascht, dass die AfD in die Hamburger Bürgerschaft einzieht?
Nein. Denn bei dieser Bürgerschaftswahl kreuzten die AfD nur wenige Wähler - nämlich gerade mal 5000 - mehr an als bei der Bundestagswahl 2013, da waren es 42.000. Über die Hälfte des minimalen Zuwachses der AfD von 5000 Kreuzen dürfte dabei von Wählern stammen, die 2013 noch der NPD ihre Stimme gaben. Die NPD wurde 2013 von 5700 Wählern gewählt, erhielt jetzt aber nur noch 2300 Stimmen. Die 42.000 AfD-Wähler in Hamburg deuten also keinesfalls auf einen großen Zulauf zu dieser Partei hin, zumal diese Stimmzahl bei der Bundestagswahl mit einer höheren Wahlbeteiligung von 70 Prozent auch nur für 4,7 Prozent der gültigen Stimmen und somit nicht zum Sprung über die Fünfprozentmarke gereicht hätte. Die 42.000 AfD-Wähler relativieren sich zudem, wenn man bedenkt, dass über 24.000 Wahlberechtigte einen ungültigen Stimmzettel abgaben. Das waren 3,3 Prozent aller Wähler - und somit wieder ein Beleg mehr dafür, wie hirnrissig das Hamburger Wahlsystem ist.
Was hat die FDP-Spitzenkandidatin Katja Suding richtig gemacht, deren Partei immerhin 7,4 Prozent holte?
Sie hat geschickt die bundesweite Aufmerksamkeit für ihre Partei genutzt, ein paar persönliche Tupfer hinzugefügt und die FDP so für eine großstädtische und liberale Wählerschaft wieder interessant gemacht. Die FDP hätte mit ihren 52.000 Stimmen bei der Bürgerschaftswahl - ein Plus von 9000 Wählern oder 21 Prozent im Vergleich zur Bundestagswahl - auch 2013, anders als die AfD, die Fünfprozenthürde übersprungen und wäre auf 5,8 Prozent der gültigen Stimmen gekommen.
Und wie stehen Grüne und Linke im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 da?
Die Grünen und die Linke, die ihr Ergebnis bei der Bürgerschaftswahl als großen Erfolg feiern, sind jetzt von weniger Wählern gewählt worden als bei der Bundestagswahl 2013. Die Zahl ging bei den Grünen um fast 28.000 - von 113.000 auf 85-000 - oder 24 Prozent zurück und bei der Linkspartei um rund 18.000 - von 78.000 auf knapp 60.000 - oder 25 Prozent zurück.
Was bedeutet eine Wahlbeteiligung von gerade mal 56,6 Prozent?
Dass die stärkste Gruppe bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg wieder die "Partei der Nichtwähler" gewesen ist, die mit 563.000 oder 43 Prozent fast so stark war wie die etablierten Parteien SPD, CDU, Grüne und FDP zusammen. Die brachten gemeinsam 44 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich.