Wenn es stimmt, dass Politik auch über Bilder gemacht wird, über Bilder, die sich lange im Gedächtnis festbrennen, dann hat Gerhard Schröder jetzt ein Problem. Denn dieses eine Bild wird bleiben - und vielleicht wird er es nie wieder los. Wie er da steht am frühen Montagmorgen, müde und abgekämpft, hinter sich die schweren Stahltüren des Bundesrats, das Gesicht in die Kameras gerichtet, aber eigentlich ins Leere blickend. Und wie er schmallippig erklären muss, dass die große Steuererleichterung, die er den Deutschen unter den Weihnachtsbaum legen wollte, nun doch nicht kommt. Sondern nur zur Hälfte.
Man könne sich immer mehr vorstellen, sagte Schröder unmittelbar nach dem zehnstündigen Schlusspoker mit Angela Merkel und Edmund Stoiber. Aber man müsse die Machtverhältnisse nun mal akzeptieren, "wie sie gegenwärtig sind".
Machtverhältnisse akzeptieren? Hat er, der Meister der schnellen taktischen Volte, der Urheber so vieler, zuweilen genialer politischer Taschenspielertricks, die Verhältnisse je so akzeptiert, wie sie sind? Kein Zweifel: Das war, morgens um halb vier, nicht mehr der Gerhard Schröder, den wir kannten. Das war kein Sieger.
Monatelang hat er mit der Opposition gerangelt, um Steuersenkungen, Subventionsabbau und Arbeitsmarktreformen. Am Ende steht ein Ergebnis, mit dem seine Gegenspielerin Angela Merkel sehr gut leben kann - er aber nur sehr schlecht
Statt um 15,6 Milliarden Euro
werden die Bundesbürger 2004 nur um 7,8 Milliarden Euro zusätzlich entlastet. Das reduzierte Steuergeschenk kann Schröder unmöglich als Konjunkturprogramm verkaufen - umgekehrt aber CDU und CSU nicht als die großen Blockierer hinstellen.

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Pendlerpauschale und Eigenheimzulage
werden gekürzt - das ist unpopulär, belastet die Anhänger von SPD und Union aber gleichermaßen.
Der Kündigungsschutz
wird gelockert, die Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose werden verschärft. Das schneidet ins sozialdemokratische Fleisch.
Vor allem mit Deregulierungen am Arbeitsmarkt könnte die SPD einen gefährlich hohen Preis für die Steuersenkung bezahlt haben. Seit Monaten bastelt Angela Merkel an ihrer "Implosionstrategie". "Die Leute müssen sich fragen: Wenn die SPD sowieso CDU-Politik macht, wieso sollen wir dann SPD wählen?", umreißt ein hochrangiger Unionspolitiker das Kalkül. Unvergessen ist bei CDU und CSU bis heute, wie Schröder vor gut drei Jahren im Bundesrat die Steuerreform durchsetzte, indem er mehrere CDU-Länderchefs mit kleinen Geldgeschenken aus der Blockadefront kaufte. "Nie mehr passiert mir das, nie mehr!", gelobte Merkel noch vor wenigen Tagen im kleinen Kreis.
Sie hatte alle im Sack
Sie hat Wort gehalten. Um 1 Uhr 30 in der Früh zauberte sie die Idee aus dem Hut, die Steuersenkung zu akzeptieren - aber nur zur Hälfte. Damit hatte sie alle im Sack: Schröder, den sie vor der Totalblamage bewahrte; die CDU-Länderchefs Koch (Hessen) und Milbradt (Sachsen), die ideologisch blockierten, sowie Wulff (Niedersachsen), der zu große Löcher in seinem Haushalten fürchtete; und ihren ewigen Gegenspieler Stoiber, der sich partout als Steuersenker beim Volk beliebt machen wollte. "Das machen wir jetzt", schnürte er Merkels Steuersack zu.
Mit kalter politischer Intelligenz nutzte die Oppositionsführerin ihre Chance: Statt in der Regierungszentrale, wo sich Schröder als gut gelaunter Kompromisskanzler feiern lassen wollte, musste er sich in die Niederungen der Gremiendemokratie begeben. Statt Rotwein und Zigarren, bei denen er gerne seine politischen Hinterzimmer-Deals einfädelt, gab es im schlecht gelüfteten Saal 1128 Bockwürste und heiße Suppe. Und für jedes Zugeständnis musste er doppelt und dreifach an Merkel zahlen - etwa für die verschobene Auflockerung der Tarifverträge.
Schröder war bis an den Rand der Aktionsunfähigkeit gelähmt: ein Kanzler von Merkels Gnaden. Weil die in letzter Minute einen neuen Steuertarif ins Spiel brachte, kann die Koalition ihre verbliebene Wohltat nicht schon mit dem Januar-Gehalt, sondern - allerdings rückwirkend - erst zwei oder drei Monate später erweisen. Schneller können die Computerprogramme in den Lohnbuchhaltungen nicht angepasst werden.
Schröder hat sich verzockt
Schröder hat sich verzockt. Zu lange hatte er darauf vertraut, dass die Union unter dem Druck der "Bild"-Zeitung einknicken werde. Sein Raubtier-Charme ist verbraucht, und er scheint das zu spüren. Nur selten noch erlaubt er sich Rückfälle in den Habitus des lässigen Modernisierungskanzlers, der über Konflikten und Sachzwängen thront. Und wenn, dann wirken diese Gesten seltsam deplaziert. Es sind ernste Zeiten. Und die verlangen einen ernsten Kanzler.
Unter dem Druck dieser Verhältnisse scheint Schröder erstmals sein Inszenierungstalent abhanden gekommen zu sein. Ein Kommunikationsdesaster reiht sich ans nächste. Vom Parteitag in Bochum, ursprünglich als Aufbruchssignal für die von den "Agenda"-Reformen schwer verunsicherte Sozialdemokratie gedacht, bleibt vor allem Schröders nächtlicher Ausraster gegen eigene Genossen in Erinnerung: "Euch mach ich fertig!"
Und statt den unionsinternen Streit über die von Merkel favorisierten "Kopfprämien" in der Krankenversicherung auszunutzen, redete sich Schröder auf seiner China-Reise mit der voreiligen Festlegung, den Export der Hanauer Atomfabrik zu genehmigen, in die Bredouille - und seine Koalition in eine ernste Krise.
Während der Kanzler ein sozialdemokratisches Tabu nach dem anderen knackt, fehlen der Partei Stolz und Vision. Sie wird von Sachzwang zu Sachzwang geprügelt, aber sie hat keinen Begriff mehr von sich selbst. Schon auf dem Bochumer Parteitag wirkte die SPD politisch wie entkernt. "Wir sind an zehn verschiedenen Baustellen unterwegs", beschrieb Fraktionschef Franz Müntefering kürzlich die Lage. "Und die Leute fragen: Gibt das ein Haus? Habt ihr überhaupt einen Bauplan?"
Das Superwahljahr 2004
Schon graut es sozialdemokratischen Wahlkämpfern landauf, landab vor dem Superwahljahr 2004, in dem insgesamt 13 Landtags- und Kommunalwahlen plus eine Europawahl zu bestehen sind. "Alle Wahlkämpfe im nächsten Jahr werden mit Bundesthemen geführt", fürchtet der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, der ein erstes Debakel bereits bei der Kommunalwahl im Herbst erlebt hat, als seine SPD bei 23,6 Prozent landete. Ohne Trendwende im Bund droht ihm bei der Landtagswahl im September der Machtverlust.
Noch finsterer sieht es in Nordrhein-Westfalen aus, wo im September 2004 Kommunalwahlen anstehen. Kollabiert die Partei im SPD-Stammland, wird sie sich bis zur Landtagswahl 2005 nicht erholen, fürchten viele Genossen. Und gehe erst NRW verloren, brauche sie 2006 im Bund erst gar nicht anzutreten.
Immerhin: Durch die vorgezogenen Wahlen in Hamburg hat die SPD eine unverhoffte Chance erhalten. Zwar würde nach einer Forsa-Umfrage für den stern Bürgermeister Ole von Beust (CDU) derzeit die absolute Mehrheit der Mandate holen. Weil aber die FDP wie die Schill-Partei aus der Bürgerschaft zu fliegen droht, könnte es am Ende knapp für eine rot-grüne Mehrheit reichen. Und dann "wird das für uns eine ganz schwierige Kiste im nächsten Jahr", ahnt einer aus der Unionsspitze.
Dünnes Hoffnungsszenario
Daraus leiten die Genossen ein dünnes Hoffnungsszenario ab: Mit dem Schub des Hamburger Ergebnisses wird in Thüringen am 13. Juni eine absolute CDU-Mehrheit verhindert und die SPD Juniorpartner in einer großen Koalition; am selben Tag gewinnt sie bei den Europawahlen leicht dazu, was nicht schwierig ist, weil das Ergebnis 1999 mit 30,7 Prozent hinreichend miserabel war. Und dann könnten vielleicht sogar die NRW-Kommunalwahlen im Herbst glimpflich ausgehen. Schröder setzt seine ganze Hoffnung in denallmählichen Aufschwung der Wirtschaft. Nach dem Steuer-"Reförmchen" werde aber erst mal die "Enttäuschung dominieren", vermutet Rüdiger Parsche vom ifo-Institut. Das Weihnachtsgeschäft, auf das der Einzelhandel große Hoffnungen gesetzt hatte, verlief nur schleppend.
Mittelfristig bleiben die Ökonomen dagegen optimistisch. Nach drei Jahren der Stagnation trauen die wichtigsten Konjunkturexperten Deutschland im kommenden Jahr rund 1,5 Prozent Wachstum zu. Den Effekt der Steuersenkung taxieren sie dabei aber eher gering: Selbst die volle Entlastung hätte höchstens 0,2 Prozent zusätzliches Wachstum gebracht, schätzt der Chef des Hamburger Weltwirtschafts-Archivs, Thomas Straubhaar: "Mit solchen Größenordnungen bewegen wir uns sowieso innerhalb der Fehlermarge jeder Konjunkturprognose."
Umso unverständlicher, dass sich der Kanzler schon vor Monaten in das Vorziehen der Entlastung politisch geradezu verbissen hatte. Jetzt kann er sich, Ironie der Geschichte, wenigstens darauf zurückziehen, dass die gefledderte Version eigentlich ziemlich sozialdemokratisch ausgefallen ist - sozialdemokratischer als die Vollversion. Denn vor allem niedrige Einkommen werden auch nach dem Kompromiss mit Merkel ordentlich entlastet: Ledige mit bis zu 20 000 Euro und Verheiratete mit bis zu 40 000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen zahlen 2004 immerhin mindestens zehn Prozent weniger ans Finanzamt.
Agenda 2010 "nur der Anfang"
Ausruhen kann der Kanzler sich darauf nicht. Seine Agenda 2010 sei "nur der Anfang", erklärt er - halb werbend, halb drohend. Spätestens seit Angela Merkel, höchstwahrscheinlich seine Kontrahentin im Kampf um den Kanzlerposten 2006, ihre CDU auf den Weg grundlegender Sozialreformen getrieben hat, ist klar, dass er als "Kanzler der ruhigen Hand" nicht mehr gewinnen kann.
Trotz Dauerwahlkampfs soll daher auch 2004 ein Reformjahr werden. In den ersten Monaten wird eine weitere Rentenreform beschlossen werden. Erneut sind die Botschaften wenig populär: Das tatsächliche Renteneintrittsalter soll von 60 auf 63 Jahren steigen. Die Rentensteigerungen bleiben mager, ein "Nachhaltigkeitsfaktor" wird in der Rentenformel eingebaut. Auch an das Thema "Rentensteuer" traut sich die Regierung heran. Was Fachleute "nachgelagerte Besteuerung" nennen, wird dazu führen, dass rund eine Million Senioren mehr als jetzt künftig Steuern zahlen muss.
Sogar nahen Vertrauten, die mit Schröder schon durch viele Schlachten gezogen sind, wird bei dem Tempo, das gefordert ist, gelegentlich mulmig. "Mir ist noch mal klar geworden, dass wir in den vergangenen Monaten verdammt viel Mut gehabt haben", sagte Franz Müntefering nach dem nächtlichen Gefeilsche mit der Union. "Ich hoffe nur, dass wir dafür auch irgendwann beim Wähler mal wieder das Vertrauen kriegen."
Tilman Gerwien, Andreas Hoidn-Borchers, Lorenz Wolf-Doettinchem
Mitarbeit: Frank Donovitz, Silke Gronwald, Joachim Reuter, Doris Schneyink, Frank Schulte