Wer Kritik übte, kam unter Druck: Noch unter der Ende 2013 angetretenen Ursula von der Leyen (CDU) ging das Verteidigungsministerium nach Recherchen des stern teils massiv gegen hausinterne Kritiker Gewehrs G36 vor. In einer geheimen Sitzung des Verteidigungsausschusses räumte die Behörde jetzt erstmals ein, dass im Jahr 2013 im Raum stand, den Militärischen Abschirmdienst (MAD) einzuschalten, um Whistleblower ausfindig zu machen, die Informationen nach draußen gaben. So trafen sich Geschäftsführer des G36-Herstellers Heckler & Koch im Jahr 2013 mit dem damaligen MAD-Präsidenten Ulrich Birkenheier. Auch die Rüstungsabteilung des Wehrressorts wandte sich offenbar an ihn. Birkenheier lehnte ein Eingreifen aber ab, weil der Nachrichtendienst der Bundeswehr in dieser Sache nicht zuständig sei.
Strafanzeige gegen Unbekannt
Wie der stern bereits vor zwei Wochen berichtet hatte, planten Bedienstete des Ministeriums in Sachen G36 bereits im Jahr 2011, den MAD zu mobilisieren, um interne Quellen eines freien Journalisten aufzuspüren. Ende März hatte von der Leyen erstmals eingeräumt, dass die zu großen Teilen aus Kunststoff gefertigten Gewehre des Typs 36 "Präzisionsprobleme" zeigen könnten, wenn sie sich erwärmen. Bis dahin hatte die Spitze des Ministeriums die Mängel jahrelang geleugnet. Der Hersteller beharrt bis heute darauf, dass er die von der Bundeswehr verlangten Lieferbedingungen stets ordnungsgemäß eingehalten habe.
Wegen aus Sicht des Unternehmens rufschädigender Berichte über das Gewehr G36 hatte Heckler & Koch nach dem stern vorliegenden vertrauliche Unterlagen des Verteidigungsministeriums überdies ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen angestoßen. Danach stellte die Firma in den Jahren 2013 und 2014 wiederholt Strafanzeige gegen Unbekannt bei der Staatsanwaltschaft Bonn. In einem Schreiben des zuständigen Oberstaatsanwalts an das Verteidigungsministerium vom 28. November 2014 wird in dem Zusammenhang auch ein Artikel des stern von Anfang Juli 2014 ("Was de Maizière verschwiegen hat"), erwähnt. Dort, so der Ermittler, sei davon die Rede, dass ein als "VS-Vertraulich – Amtlich geheimgehalten" eingestufter Bericht des Bundesrechnungshofes der stern-Redaktion mitsamt Anhängen vollständig in Kopie vorliege.
Schwächen heruntergespielt
In dem vom stern zitierten Bericht hatte der Rechnungshof auf Schwächen des G36 hingewiesen, die "inakzeptabel" seien, aber vom Verteidigungsministerium immer wieder heruntergespielt würden. Das Verteidigungsministerium sah darin einen möglichen Verrat von Dienstgeheimnissen und erteilte noch Anfang 2015 ausdrücklich die - rechtlich erforderliche – Ermächtigung zu Ermittlungen. Es gebe "ein erhebliches Interesse" daran, einen eventuellen Geheimnisverrat "aufzuklären, um mögliche Sicherheitslecks zu schließen und künftige Taten durch Abschreckung zu verhindern", heißt es in einem Vermerk des Wehrressorts vom Januar 2015. Überdies, so sorgte sich der Autor des Vermerks, könnte "die Versagung der Ermächtigung bei der Fa. Heckler & Koch zu Irritationen führen, die als Vertragspartnerin der Bundeswehr durch die Veröffentlichung der Vorlage ebenfalls geschädigt wurde".
Die Bonner Staatsanwaltschaft ließ am Mittwoch eine Anfrage des stern zu dem Verfahren unbeantwortet.
Das Verteidigungsministerium hat dieser Tage in vier Aktenordnern einen Teil der intern vorhandenen Unterlagen zu dem Gewehr zusammengestellt. Sie belegen, wie sehr zumindest einem Teil der Wehrbürokratie die Interessen des Herstellers Heckler & Koch am Herzen lagen – und wie die Spitze des Hauses vor allem unter dem heutigen Innenminister Thomas de Maizière (CDU) den Abwieglern auf den Leim ging.
Aus den Dokumenten geht auch hervor, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz bis Anfang 2014 gegen einen seinerzeit als Referatsleiter in der Rüstungsabteilung für das G36 zuständigen Beamten ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue führte. Die Koblenzer Ermittler hatten das Verfahren im Jahr 2012 aufgrund einer anonymen Anzeige eingeleitet. Dem Ministerialrat wurde vorgeworfen, die Beschaffung weiterer Gewehre des Typs G36 veranlasst zu haben, obwohl Bundeswehrprüfer in der Zwischenzeit eine mangelnde Treffsicherheit der Waffe in erwärmtem Zustand kritisiert hatten. Es habe der Verdacht bestanden, dass der Beschuldigte den Kauf "im Bewusstsein" anordnete, dass das zu beschaffende Gewehr für den vorgesehenen Zweck "untauglich war", hieß es in einem Papier der Strafverfolger.
Hausinterner Feldzug gegen Kritiker
Die Koblenzer Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren jedoch Anfang 2014 wieder ein, weil das Verteidigungsministerium in der Zwischenzeit das Gutachten eines Fraunhofer-Instituts vorgelegt hatte, wonach allein eine bestimmte Munitionssorte und nicht das Gewehr selbst die Ursache für die Mängel sei. Der Rechnungshof hatte diesem von der Rüstungsabteilung bestellten Gutachten anschließend wiederum methodische Mängel vorgeworfen. Anfang diesen Jahres revidierte das Fraunhofer-Institut dann nach gemeinsam mit dem Rechnungshof konzipierten neuen Tests seine Meinung.
Der einst von den Ermittlungen betroffene Beamte ist nun trotzdem aus dem Schneider: Die Staatsanwaltschaft Koblenz sieht nach eigenen Worten "keine Veranlassung", die Ermittlungen wieder aufzunehmen.
Die zeitweilig das G36 entlastende Expertise der Fraunhofer-Leute nutzten Teile der Wehrbürokratie jedoch offenbar zu einem regelrechten hausinternen Feldzug gegen Kritiker des Gewehrs. Ein Bediensteter des Beschaffungsamtes der Bundeswehr, der wegen der von Heckler & Koch bis heute bestrittenen Mängel sogar Kanzlerin Angela Merkel angeschrieben hatte, wurde sogar Opfer disziplinarischer Ermittlungen. "Die Akten wecken den Eindruck, dass Kritiker der These, es sei ausschließlich die Munition, mundtot gemacht werden sollten", sagte der Grünen-Abgeordnete Tobias Lindner dem stern. "Wer Fehler meldete, wurde dafür angefeindet", bemängelte nach der Sitzung am Mittwoch auch der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels (SPD).
Kuscheln mit dem Hersteller?
Zumindest einige Bedienstete des Ministeriums legten hingegen immer wieder großen Wert auf ein gutes Verhältnis zu Heckler & Koch. So machte sich ein Oberamtsrat im Juli 2014 in einer Mail Sorgen um die Firma, nachdem der Haushaltsausschuss des Bundestages die Beschaffung weiterer G36 gestoppt hatte: "Die aktuell bereits angespannte wirtschaftliche Lage des Unternehmens Heckler & Koch kann sich u.a. durch das mit dem Moratorium verbundene negative Image weiter verschärfen", schrieb der Beamte und fuhr fort: "Da die Bundeswehr ihre Handwaffen im Wesentlichen von dem Hersteller Heckler & Koch bezieht, könnte sich dies auch (auf) die Beschaffung anderer Handwaffen des Herstellers Heckler & Koch auswirken."
"Manchmal weiß man schon gar nicht mehr, wo das Ministerium aufhört und die Waffenfirma anfängt", wunderte sich jetzt der Linken-Abgeordnete Jan van Aken. Sein Kollege Michael Leutert beklagt eine "Verquickung zwischen Ministerium und Industrie, trotz aller Warnungen". Wie viel Rücksicht auf die Interessen des Unternehmens genommen wurde, zeigte sich auch bei einer der zentralen Fragen rund um das Gewehr. Wie der stern Anfang April enthüllt hatte, rührt ein Teil der Probleme mit dem G36 möglicherweise aus einer Zusammensetzung des verwendeten Kunststoffes, die nicht den 1996 festgelegten Technischen Lieferbedingungen entspricht. Dort war mit Glasfasern verstärktes Polyamid gefordert worden. Anfang 2012 entdeckte das Wehrwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (WIWeB) jedoch Anteile des billigeren Polyethylen in dem Gewehrgehäuse.
"Ob dieser Kunststoff als Verunreinigung oder Beimischung in das Polyamid gelangte, ist nicht bekannt", schrieb das WIWeb im Februar 2012: "Fest steht jedoch, dass Polyethylen das Verhalten bei erhöhter Temperatur negativ beeinflusst." So beginne "bereits knapp über Raumtemperatur" die "Steifigkeit des am G36 verwendeten Kunststoffes deutlich abzunehmen".
Eigentlich, so das Institut bereits vor drei Jahren, seien "für die zu erwartenden Einsatztemperaturen" am Markt "wesentlich leistungsfähigere Kunststoffe als das hier eingesetzte PA6 verfügbar". Dafür müsste der Herstellungsprozess angepasst werden, was "aufwändig und teuer" sei – aber die Qualität der Waffe erhöhen könne.
"Keine Produktänderung mit Relevanz"
Diesen Vorschlag verfolgte das damals von de Maizière geführte Verteidigungsministerium nicht weiter. Ein Referatsleiter der Rüstungsabteilung wischte die Kritik an dem Kunststoffkomposit damals mit rein formalen Argumenten vom Tisch. Man habe das Polyethylen ab Mitte der 90er Jahre mit Genehmigung der Behörde beigemischt, weil "die Festigkeit einiger Kunststoffteile bei rauer Behandlung nicht voll befriedigend war". Weil es sich aber, so der Bedienstete in einem Schreiben von Juli 2012, "bei der mangelnden Festigkeit der Kunststoffteile um keine erhebliche Funktionsstörung oder Schwachstelle" gehandelt habe, sei die Beimischung von Polyethylen "keine Produktänderung mit Relevanz" für die nötige "Erklärung der Funktionsbereitschaft".
Keinen schien zu kümmern, dass man mit dem Polyethylen zwar ein Problem gelöst, aber ein neues geschaffen hatte. Der damalige - von de Maizière eingesetzte - Staatssekretär Stéphane Beemelmans schluckte die dürftig klingende Begründung mit Paraphe vom 25.7.12: "Wenn alles so klar ist, hoffe ich, dass die WTD 91 informiert wird", schrieb er.
Die WTD 91 – das war die Prüfstelle, die im Jahr 2012 dem Gewehr mangelnde Treffsicherheit in erwärmtem Zustand bescheinigt hatte. Zum Ärger der Freunde von Heckler & Koch im Ministerium.