Vertrauensfrage Kanzler sucht neue Legitimation

Kanzler Gerhard Schröder hat im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt. Er wolle damit eine neue Legitimation für seine Reformpolitik bekommen. Derzeit könne er nicht "mit dem notwendigen Vertrauen" seiner Koalition rechnen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat im Bundestag seine Vertrauensfrage mit mangelnder Legitimation seiner Politik begründet. Nach einer Serie von empfindlichen Wahlniederlagen im Zusammenhang auch mit der Agenda 2010 sei diese Legitimation nicht mehr gewährleistet, sagte Schröder am Freitag im Bundestag. "In der Folge dessen wurde deutlich, dass die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das Deutsche Volk, nicht erlauben meine Politik erfolgreich fortzusetzen." Auch den Konflikt in der SPD über die Reformpolitik nannte er als Grund. Es habe "heftige Debatten um den künftigen Kurs der SPD" gegeben, sagte er. Die Protestwelle gegen Reformen wie Hartz IV oder die Praxisgebühr habe zu "Streit zwischen den Parteien und in den Parteien" geführt. "Meine Partei hat darunter besonders gelitten", sagte Schröder.

Die Debatte habe so weit geführt, dass sich einige SPD-Mitglieder "einer rückwärts gewandten, linkspopulistischen Partei" angeschlossen hätten, sagte er in Anspielung auf die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit. "Solche eindeutigen Signale aus meiner Partei ... musste und muss ich ernst nehmen." Zwingende verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Neuwahl nach einem Entzug des Vertrauens sehe er nicht.

Antrag im Wortlaut

Kanzler Schröder hat im Bundestag die Vertrauensfrage begründet. Der Antrag, den er dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt hat, hat folgenden Wortlaut:

"Gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Freitag, dem 1. Juli 2005, hierzu eine Erklärung abzugeben."

SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering hat Bundeskanzler Gerhard Schröder der Solidarität der Sozialdemokraten versichert. Schröder habe das Vertrauen der SPD-Fraktion, sagte Müntefering in der Bundestagsdebatte. Gleichwohl werde er sich in der Abstimmung enthalten, um den Weg zur vorgezogenen Neuwahl des Bundestags herbeizuführen. Die SPD strebe die Wahl an, "weil wir ein Mandat wollen für unsere Politik der Reformen". Die von der rot-grünen Koalition eingeleiteten Reformen seien unverzichtbar, sagte Müntefering. Der Union warf Müntefering vor, mit ihrer Mehrheit im Bundesrat und im gemeinsamen Vermittlungsausschuss die notwendigen Reformen verhindert zu haben.

Außenminister Joschka Fischer hat die Reformpolitik der rot-grünen Koalition verteidigt und die Opposition scharf attackiert. Der Grünen-Spitzenpolitiker sagte im Bundestag, seine Fraktion hätte sich gewünscht, dass 2002 erteilte Mandat voll erfüllen zu können. Aber es sei der Entscheidung des Kanzlers vorbehalten, die Vertrauensfrage zu stellen, wenn er zu der Überzeugung gelangt sei, dass seine Mehrheit nicht mehr belastbar sei. Fischer ging in seiner Rede vor allem auf die Außenpolitik und die Reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ein. "Diese Koalition hat allen Grund, stolz zu sein auf das, was sie erreicht hat", sagte Fischer.

An CDU-Chefin Angela Merkel gerichtet sagte der Spitzenkandidat der Grünen für die im September erwartete Bundestagswahl: "Gegenwärtig kommen Sie mir mit ihren Umfragen vor wie ein wunderbar anzuschauendes Soufflee im Ofen. Werden wir mal sehen in den letzten drei Wochen." Mit Blick auf den Irak-Krieg und den Bundestagswahlkampf 2002 sagte Fischer: "Für uns geht Bündnissolidarität nicht vor Vernunft. Sie waren da anderer Meinung." FDP-Parteichef Guido Westerwelle hielt er vor, er wolle Vizekanzler werden, sei aber ein "Schmalspurpolitiker".

Merkel zollt Schröder Respekt

Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel hat die Vertrauensfrage als unausweichlich begrüßt. "Für diesen Schritt zolle ich Ihnen auch persönlich Respekt, denn er ist unumgänglich, um unserem Land monatelange quälende Auseinandersetzung aus Gründen rot-grüner Handlungsunfähigkeit zu ersparen", sagte Merkel am Freitag in der Bundestagsdebatte über die Vertrauensfrage und kündigte für den Fall eines Regierungswechsels schnelle Reform an. "Dieses Land kann sich kein verlorenes Jahr mehr leisten, kann sich keinen verlorenen Tag mehr leisten."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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SPD und Grüne könnten Deutschland nicht mehr regieren, sagte Merkel. Seit Bekanntgabe von Schröders Reformagenda 2010 im März 2003 gebe es in der rot-grünen Koalition ein schweres Ringen um jede Detailfrage. Mit diesem Zickzack-Kurs habe die Koalition das Reformtempo in Deutschland gedrosselt und das Vertrauen der Bürger in die Politik verspielt. "Dieses Land braucht nicht Politik als Stückwerk, dieses Land braucht Politik aus einem Guss." Dafür werde die Union nach einem Regierungswechsel stehen, mit klaren Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat.

Merkel: "Wir brauchen eine Politik, die unbedingte Vorfahrt für Arbeit hat." Ein weiterer Schwerpunkt der Union nach einem Regierungswechsel werde in der Förderung von Kindern und Familien liegen, kündigte die CDU-Chefin an. "Es gibt keine Alternative dazu, das Land zu reformieren." "Wir brauchen an vielen Stellen weniger Staat und mehr Freiheit."

"Deutschland braucht einen neuen Anfang"

Auch die FDP hat die angestrebte Neuwahl als notwendig bezeichnet. "Deutschland braucht einen neuen Anfang und das geht nur mit einer neuen Regierung", sagte FDP-Chef Guido Westerwelle am Freitag in der Aussprache über die von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gestellte Vertrauensfrage im Bundestag. Rot-Grün sei nicht an Opposition oder Bundesrat gescheitert, sondern am mangelnden Vertrauen und mangelnden Mut der eigenen Reihen. Politisch sei die Vertrauensfrage längst beantwortet, sagte Westerwelle. "Die Bürger haben entschieden bei all den Landtagswahlen." Die Neuwahl sei aber kein "Coup". Rot-Grün stehe mit dem Rücken an der Wand und habe keine Mehrheit in der Bevölkerung. Eine künftige Regierung stehe von einer schwierigen Aufgabe: "Jede soziale Gerechtigkeit muss erstmal erwirtschaftet werden."

Sollte der Kanzler wie beabsichtigt und erwartet keine Mehrheit erhalten, wird er Bundespräsident Horst Köhler um Auflösung des Parlaments bitten. Schröder, der seine Regierung nach den jüngsten SPD-Wahlniederlagen nicht mehr regierungsfähig sieht, will auf diesem Weg Neuwahlen am 18. September erreichen. Die Rechtmäßigkeit des Verfahrens ist allerdings umstritten. Es wird erwartet, dass Verfassungsklagen gegen eine Auflösung des Parlaments erhoben werden.

Die SPD-Spitze hat den sozialdemokratischen Abgeordneten empfohlen, sich der Stimme zu enthalten. Der Kanzler selbst und sämtliche Minister wollen sich ebenfalls enthalten. Auch bei den Grünen wollen einige Abgeordnete nicht für Schröder stimmen.

Zunächst müsste nach dem Bundestag der Bundespräsident über das um ein Jahr vorgezogene Ende der Legislatur entscheiden. Er hätte dazu 21 Tage Zeit. Angesichts der zu erwartenden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht könnte es dann aber noch Wochen dauern, bis klar ist, ob tatsächlich im Herbst gewählt wird. Über eine gescheiterte Vertrauensfrage war der Bundestag bisher 1972 und 1983 aufgelöst worden.

"Fingiert verlorenes Vertrauensvotum"

Die frühere FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher hat den Bundespräsidenten aufgefordert, einer Auflösung des Bundestages nicht zuzustimmen. Es handele sich um "ein fingiert verlorenes Vertrauensvotum und somit um ein nicht verfassungskonformes Verfahren", sagte sie der "Financial Times Deutschland" (Freitag).

Auch Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) hat Bedenken, ob der von Schröder eingeschlagene Weg verfassungsrechtlich haltbar ist. Der "Frankfurter Rundschau" (Freitag) sagte sie, es gebe "berechtigte Zweifel", ob das Verfahren bei einer Überprüfung in Karlsruhe "glatt durchgeht".

Unterstützung erhielt Schröder von Wirtschaftsvertretern. "Neuwahlen sind der richtige Weg, das politische Patt aufzulösen", sagte der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Otto Kentzler, der "Bild"-Zeitung (Freitagausgabe). Gerade der Mittelstand könne sich "einen Reform-Stillstand nicht leisten". Auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen R. Thumann, begrüßte den Schritt des Bundeskanzlers. "So kann unser Land wieder auf die richtige Spur kommen."

Großes Vertrauen in den Bundespräsidenten

Die Bundesbürger haben nach einer Umfrage für die "Financial Times Deutschland" in der Neuwahlfrage großes Vertrauen in den Bundespräsidenten. 65 Prozent sind der Meinung, Köhler werde sich bei seiner Entscheidung, ob er den Bundestag auflösen soll, an der Verfassung orientieren, ergab die Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos. 24 Prozent glauben, Köhler werde sich durch eine bestimmte Partei beeinflussen lassen.

Nach Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat sich der Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion, Hermann Bachmaier, für "ein bedingtes Selbstauflösungsrecht des Bundestages" ausgesprochen. Eine Grundgesetzänderung sollte ohne Hektik bei der Föderalismusreform angepackt werden, sagte Bachmaier der "Heilbronner Stimme" (Freitag). Eine Selbstauflösung des Parlaments sollte die "absolute Ausnahme" bleiben.

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AP/DPA/Reuters