Marktplatz: Die Hauptstadtkolumne Die französische Präsidentschaftswahl wird zur Schicksalsentscheidung für Europa

Marine Le Pen
Frankreich steht eine Schicksalswahl bevor. Gewinnt Le Pen, wäre das auch ein Triumpf für Putin
© Rit Heize/Xinhua News Agency / Picture Alliance
Die Präsidentschaftswahl in Frankreich zeigt, wie fragil die neue Einigkeit Europas ist. Und sie sendet weitere verstörende Botschaften.

Vor fünf Jahren markierte die Wahl von Emmanuel Macron ein neuartiges Phänomen in Europa: Es war ein Siegeszug "gegen das Establishment", der aus der Mitte kam, nicht von rechts- oder linksaußen, nicht nationalistisch, sondern proeuropäisch, liberal, weltoffen. In den vergangenen fünf Jahren wurde Macron, auch weil aus Deutschland weder Ideen noch Impulse kamen, der wichtigste Vordenker und Taktgeber Europas. Immer etwas zu stürmisch und aufgeblasen, die Brust zu gereckt, aber inhaltlich ging es in die richtige Richtung. Seine große Rede für ein neues Europa 2017, in der er unter anderem einen gemeinsamen Haushalt und einen EU-Finanzminister forderte, war neben dem Corona-Hilfsfonds die wichtigste Initiative in den vergangenen Jahren.

Seit Ausbruch des Krieges war Macron die lauteste, aber auch wichtigste Stimme Europas. Weil Angela Merkel nicht mehr da war, aber auch weil Olaf Scholz, der zwar ebenfalls mit Wladimir Putin telefonierte, zu leise und blutleer seine Stimme erhob.

Nicht auszudenken, wenn in diesen Zeiten, während Europa mit der größten Bedrohung seit Jahrzehnten kämpft, Frankreich ausfiele. In die Hände einer Frau fiele, die offen mit Putin sympathisiert. Die ausscheren könnte aus der Geschlossenheit Europas, der Achse des Westens, der Einigkeit der Nato. Der berühmte "deutsch-französische Motor" war immer wichtig für Europa, nun ist er überlebenswichtig.

Dass Marine Le Pen zum zweiten Mal innerhalb von fünf Jahren dem Élysée-Palast so nahe kommt – und trotz Macrons Vorsprung größere Chancen hat –, sendet einige verstörende Botschaften, die wir aber gut lesen sollten. Viele Franzosen wollten nicht den größten Kriegsherrn, sondern den besten Kümmerer. Marine Le Pen reiste durchs Land und über die Marktplätze und hat gespürt, was die Leute bewegt: Inflation, Kaufkraft, Energiepreise. Es ist der ewige Kampf um den Wohlstand, der hierzulande durch Parolen wie "Frieren für die Freiheit" fast verniedlicht wurde. Das Thema ist nicht "zwei Grad kälter", sondern "20 Prozent ärmer".

Brüchige Einigkeit

Die zweite Botschaft lautet: Der Kampf gegen das Establishment kann eine bedrohliche Endlosschleife werden, wenn schon der strahlende Außenseiter von 2017 nach wenigen Jahren nur ein weiterer Vertreter von "denen da oben" ist. Schon bei der ersten Bewährungsprobe Macrons, beim Aufstand der "Gelbwesten", ging es um Energiepreise. Nun könnten sie ihn wichtige Stimmen kosten. Hier zeigt sich eine Parallele zu Barack Obama: Manchmal sind es ausgerechnet die, die vereinen und versöhnen wollen, die ein Land weiter spalten. Und es sind einstige Hoffnungsträger, die am meisten gehasst werden.

Die dritte Lehre lautet: Europa ist angesichts des Krieges in der Ukraine zwar einig wie lange nicht, aber diese Einigkeit ist so brüchig, wie der Firnis der Zivilisation dünn ist. Schon der deutliche Wahlsieg Viktor Orbáns, bei dem weder die Nähe zu noch die Angst vor Russland eine Rolle spielten, offenbarte die Sollbruchstellen. Der schrille Schlagabtausch zwischen Macron und dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki – dieser hatte die vielen Telefonate mit Putin kritisiert – zeigt: Wir sind einig in unserer Angst, aber nicht in der Sache. Polen steht klar und mutig in der Front gegen Moskau, die Front gegen Brüssel aber ist nicht vergessen. Die tiefen Ängste in Osteuropa, mit Ausnahme Serbiens, vor dem russischen Imperialismus treiben diese Länder an. Sie suchen aber Schutz zuerst in der Nato, nicht in der EU.

Die Stichwahl in Frankreich wird erneut zu einer Schicksalswahl Europas, nur dass dieses oft beschworene Schicksal eine ganz andere Bedeutung hat. Holt Le Pen auf und gewinnt, wäre das ein Triumph für Putin und die größte Katastrophe seit dem Brexit.

Erschienen in stern 16/2022