Am 2. Mai 1945 entsteht eines der berühmtesten Fotos der Welt: Soldaten der Roten Armee hissen nach der Eroberung Berlins die Sowjetflagge am Reichstagsgebäude. Die Kapitulation Nazi-Deutschlands wenige Tage später ist für Russland bis heute ein enorm wichtiges Ereignis, das traditionsgemäß am 9. Mai als "Tag des Sieges" gefeiert wird. Zum 78. Jahrestags soll nun wieder die markante rote Flagge mit Hammer und Sichel über dem Gebäude geweht haben, behaupten im Netz veröffentlichte Bilder und Videos.
Wir haben uns die Aufnahmen genauer angeguckt und einige Ungereimtheiten entdeckt. Ein Faktencheck.
Behauptung: Am Reichstagsgebäude in Berlin haben Unbekannte eine Sowjetfahne ("Banner des Sieges") anlässlich des 78. Jahrestags des russischen Siegs über Nazi-Deutschland aufgehängt.
Bewertung: Falsch. Die kursierenden Bilder und Videos sind manipuliert und zeigen allesamt keine aktuellen Aufnahmen aus Berlin. Die Verwaltung des Bundestags dementiert den angeblichen Vorfall.
Die Fakten: Im Laufe des Montagmorgens (8. Mai 2023) gingen zunächst im Telegram-Kanal des russischen Kreml-Journalisten Dimitri Smirnov zwei Videos sowie zwei Bilder online, die später auch in anderen sozialen Netzwerken wie Twitter, Tiktok und Facebook landeten. Alle – auch erst später und an anderer Stelle veröffentlichte – Aufnahmen zeigen eine angeblich auf dem Dach des Reichstags wehende rote Siegesflagge der Sowjetunion. Smirnov behauptet in seinem Posting ohne Beleg, die Bilder und Videos stammten von deutschen Social-Media-Accounts und seien nun das Gesprächsthema in Deutschland.
Wir haben die Verwaltung des Bundestags kontaktiert. Dort teilte man uns telefonisch mit, dass man von einer am Reichstag angebrachten Sowjetfahne nichts wisse. Auch ein RTL-Reporterteam, das sich in der Nähe des Gebäudes befand, konnte die Fahne nicht entdecken.
Indizien für russische Desinformationskampagne
Bereits eine Stunde nach Smirnovs Veröffentlichung berichten dennoch erste russische Medien darüber. "Es ist 2023. Das Siegesbanner weht wieder über dem Reichstag. Kein Witz", schrieb der TV-Sender Tsargrad in einem Artikel, der sich auf Smirnovs Posting beruft. Auch die Nachrichtenseite "Izvestia" berichtete. Ebenso teilte der Duma-Abgeordnete Wjatscheslaw Nikonow die Aufnahmen Smirnovs sowie 1:1 dessen Behauptung zum angeblichen Ursprung.
Wir haben die Aufnahmen einer Rückwärtssuche unterzogen, um herauszufinden, seit wann sie geteilt wurden und wo zuerst. Das Ergebnis: Vor Smirnovs Posting, der als Kreml-Journalist über einen exklusiven Zugang zu Informationen der Regierung in Moskau verfügt, finden sich die Aufnahmen nicht im Netz. Erst im Anschluss griffen erste russische Medien und weitere, meist deutlich kleinere pro-russische (Fake-)Profile in verschiedenen sozialen Netzwerken die "Geschichte" auf. Die Behauptung, es seien deutsche Nutzer:innen gewesen, die die Aufnahmen in Umlauf brachten, stimmt somit nicht.
Zudem fallen in den Aufnahmen – neben der reinretuschierten Fahne – mehrere Ungereimtheiten auf, die für eine gegen Deutschland gerichtete Desinformationskampagne sprechen.
Absurde Tonspur, kahle Bäume, falsche Schattenwürfe
Tonspur in den Videos: Alle drei verbreiteten Videos enthalten eine Tonspur – und diese ist jeweils sehr absurd. So sagt in einem der Videos die vermeintlich filmende Frau mit offenbar künstlich erstellter, jedenfalls sehr abgehackter Stimme: "O-ha-ha. Hast du das gesehen? Das ist das Banner des Sieges". Dann macht sie eine Pause, um – ohne, dass eine Frage zu hören ist – sogleich fortzufahren: "Ja, genau. Im Zentrum von Berlin."
In Video zwei, augenscheinlich aus einem Auto heraus gefilmt, kommentiert eine männliche Stimme: "Krasse Scheiße! Ihr seht das auch gerade, oder? Was zum Teufel …". Dann bricht die Aufnahme ab.
Video drei kommentiert ebenfalls eine Männerstimme: "Verdammt noch eins! Was ist das für 'ne Flagge?"
Alle drei Kommentierungen wirken bezüglich Inhalt, Aussprache und Betonung unnatürlich und scheinen nachträglich in die Aufnahmen eingefügt worden zu sein – offensichtlich, um der Behauptung mehr Emotionalität und Authentizität zu verleihen.
Vegetation in Berlin: In der aus dem Auto heraus gefilmten Szene, sowie einem Bild sind Bäume vor dem Reichstagsgebäude zu erkennen. Diese sind größtenteils kahl, nur wenige blühen. Tatsächlich ist aber auch in Berlin inzwischen der Frühling eingekehrt und die Vegetation der Stadt bereits deutlich grüner als im Video, wie ein am gestrigen Sonntag (7. Mai 2023) von der Deutschen Presseagentur in der Bilddatenbank "Picture Alliance" veröffentlichtes Foto beweist, auch wenn es nicht genau an der Stelle des Fake-Videos aufgenommen worden ist.


Das Video wurde damit – anders als behauptet – definitiv nicht am Montagmorgen, sondern schon im Vorfeld aufgenommen.

Fahnen wehen in verschiedene Richtungen: Im aus dem Auto gefilmten Video weht die angeblich angebrachte Sowjetfahne in einer Einstellung eher in westliche/nord-westliche Richtung, die Deutschlandflagge hingegen eher gen Süden. Angesichts des geringen Abstands der Fahnenmaste scheint hier auch eine denkbare Windböe nicht als Erklärung herzuhalten.
Pfützen vor dem Reichstag: Auf drei verbreiteten Aufnahmen sind Pfützen zu erkennen. In Berlin hat es jedoch seit Samstagmorgen nicht mehr nennenswert geregnet, wie der Blick auf zurückliegende Wetterdaten zur Hauptstadt zeigt. Dass die Pfützen, zumal es in Berlin am Sonntag verstärkt sonnig war, noch immer existent sein sollen, ist nicht plausibel erklärbar.
Schattenwürfe: Sämtliche Postings behaupten, dass es sich bei den Bildern und Videos um tagesaktuelle Aufnahmen vom Montagmorgen handelt. Entsprechend müsste die Sonne aus östlicher, maximal südöstlicher Richtung scheinen. In den Videos gibt es jedoch Szenen, in denen die Sonne aus westlicher Richtung scheint, was dafür spricht, dass die Aufnahmen nicht morgens, sondern eher nachmittags entstanden sind.


Neue Qualität der Desinformation
Dass versucht wird, eine Desinformation mit mehreren Beispielen zum selben "Vorfall" aus verschiedenen Perspektiven zu verbreiten, um so Authentizität vorzugaukeln, hat eine neue Qualität. Die Macher der manipulierten Aufnahmen haben sogar darauf geachtet, dass das Wetter auf den Bildern und Videos nahezu identisch ist. All das macht es ungleich schwerer, den Fake zu entlarven. Dennoch hatten die Macher offensichtlich nicht alle Details im Blick – ob gewollt oder nicht. Es fällt zudem auf, dass sich die "Nachricht" zunächst und mehr oder weniger zeitgleich auf klar pro-russischen Kanälen verbreitete – losgetreten von einem Kreml-Journalisten.
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Wenn man so möchte, schließt sich mit den nun veröffentlichten Fakes auch ein Kreis: Das zu Beginn erwähnte Foto von der Sowjet-Flagge vom Mai 1945 ist nicht nur eine der berühmtesten Aufnahmen der Welt – sondern auch eines der bekanntesten Beispiele für Manipulation. So wurde die eigentlich bereits am 30. April durchgeführte Aktion – weil nachts passiert – am 2. Mai bei Tageslicht nicht nur nachgestellt. Auch wurde einem der abgelichteten Rotarmisten nachträglich eine zweite Armbanduhr wegretuschiert, um das Bild der selbstlosen Befreier nicht zu beflecken. Tatsächlich hatte der Soldat die Uhr beim Plündern einem Deutschen abgenommen.
Anmerkung der Redaktion: In der ersten Version des Textes war als Ungereimtheit erwähnt, dass in einer Videoszene Baustellen-Utensilien zu sehen seien, die auf einem anderen Foto desselben Gebäudeteils fehlen würden. Tatsächlich sind auf den Aufnahmen jedoch verschiedene und damit nicht vergleichbare Bereiche des Reichstags zu sehen. Wir haben die Passage und zwei dazugestellte Bilder aus dem Text genommen.