Ich habe eine große Schwester, keinen großen Bruder. Vielleicht erklärt dieser Umstand eine gewisse Unbefangenheit, wenn die Rede vom "großen Bruder" ist. Für mich ist damit eine Sehnsucht verbunden und eine Hoffnung: Der große Bruder werde es schon richten.
Als wir in der Redaktion über unser Titelbild dieser Woche diskutierten, kamen aber andere Assoziationen auf: die vom "Big Brother", der uns überwache, auf uns herabschaue, uns vielleicht manchmal bevormunde oder hinter sich herzerre. Amerika hat sich diese zwiespältige Bewertung über Jahre verdient, als schwieriger Nachbar in Mittel-und Südamerika, als (All-)Macht im Kalten Krieg, als oft kulturblinder Kriegsherr – und auch im Verhältnis zu Deutschland, dem es zwar in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs großzügigst die Hand reichte, später aber zeigte, dass Spionage selbst unter Freunden geht. Mit Donald Trump verschwand jede Hoffnung darauf, dass der große US-Bruder kein großer Bully sein würde.
Joe Biden: Eine neue Ära für die Freundschaft
Joe Biden, aktueller US-Präsident, ist kein Bully. Er ist freilich auch kein Romantiker. Biden weiß, dass Staaten eher Interessen haben als Freunde. Doch wenn er in Kiew für Frieden und Freiheit wirbt, wird klar: Mit China verbinden uns ähnliche Werte nicht. Und mit dem Kriegstreiber im Kreml schon gar nicht. Amerika ist kein perfekter Freund, genauso wenig wie der 80 Jahre alte Biden ein perfekter Präsident ist. Aber das Land bleibt der beste Freund, den wir Deutsche in der Welt haben. Sollte Kanzler Olaf Scholz am Freitag bei seiner Visite in Washington diesen einen Satz sagen, ist sein Besuch dort schon ein Erfolg.
Einige von Ihnen haben sich darüber geärgert, dass ich das "Manifest für Frieden" von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht vorige Woche so kurz abgetan habe. Ohne Ton sei das Video der beiden Frauen vielleicht witzig, hatte ich geschrieben, mehr sei dazu nicht zu sagen. Es war nicht meine Absicht, die Sehnsucht nach Frieden vom Tisch zu wischen.
Über Frieden müssen wir immer nachdenken, übrigens auch über die Lieferung von Friedenslösungen, nicht nur über die Lieferung von Waffen. Ich glaube trotzdem nicht, dass Schwarzer und Wagenknecht es ernst meinen mit ihrem Beitrag zum Frieden – dafür müssten sie unmissverständlich klarstellen, wer der Aggressor ist und wer das Opfer. Ohne (moralische) Klarheit in diesen Fragen kann es keine Klarheit für irgendeine Art von Kompromiss geben.
Hitler-Tagebücher im stern: Eine Aufarbeitung
Es ist stets etwas wohlfeil, über die Fehler seiner Vorgänger zu schreiben. Aber die Entscheidung der damaligen stern-Macher, im Jahr 1983 Auszüge aus den rund 60 Kladden zu veröffentlichen, die als "Hitler-Tagebücher" in die Geschichte eingehen sollten, war gewiss eine historische Fehlleistung – nicht nur, weil sie von Konrad Kujau gefälscht waren, sondern weil sie auch zu transportieren schienen, dass Hitler von den schlimmsten Nazi-Verbrechen nichts gewusst habe. Ob das ein Ausdruck gezielter Holocaustleugnung war, wie es Medienberichte vorige Woche suggerierten, und der Versuch Rechtsextremer, die Geschichte des Dritten Reiches umzudeuten?
Wir wollen es unbedingt selbst wissen, es wird im Auftrag von Bertelsmann eine wissenschaftliche Aufarbeitung am renommierten Institut für Zeitgeschichte in München geben, das derzeit bereits die Geschichte des stern von seiner Gründung bis zum Ausscheiden von Gründer Henri Nannen im Jahr 1983 aufbereitet. Die Ergebnisse werden öffentlich dokumentiert werden – natürlich auch im stern.