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M.Streck: Frischluft Verschwörungstheorien und Corona oder: die große Koalition der Spinner

Demo gegen die Corona-Maßnahmen in Baden-Württember
Demo gegen die Corona-Maßnahmen in Baden-Württemberg: Auf vielen solcher Demos tummelten sich auch einige Verschwörungstheoretiker
© Christoph Schmidt / DPA
Unser Autor Michael Streck liebt harmlose Spinner und Exzentriker. Der Corona-Lockdown allerdings bringt die Menschen nicht nur zur Besinnung. Sondern viele auch auf verdammt dumme Gedanken. 
Früher, ganz früher, lange vor Corona und anderen Katastrophen wie 9/11 war ich eine Art Irrenarzt. Natürlich nicht im klassischen und medizinischen Sinne, aber wohl doch im therapeutischen. Denn früher, ganz früher, als Print-Medien noch mächtig und wichtig waren und man zuerst in gedruckten Zeitungen las vom weltweiten Netz und blöde Wortwitzchen machte über das kommende Indernet, zu der Zeit also war ich zuständig für die – vorsichtig ausgedrückt – leicht verwirrten, verstörten oder einfach nur einsamen Leser, die regelmäßig anriefen oder lange Briefe schrieben. Mails waren noch nicht so verbreitet. Rief einer oder eine an im Sekretariat und sagte, er oder sie sei von Außerirdischen entführt worden und könne sich seitdem von Licht ernähren, sprach die Sekretärin: "Einen Moment, ich stelle Sie mal durch zu unserem Experten."

Das war ich. Was mich als Experten auswies, war einzig und allein die Tatsache, dass ich ganz gut zuhören kann, wenn mir wildfremde Menschen erzählen, was sie bedrückt oder auch nicht bedrückt oder sie eben glauben, sie könnten Licht essen.

Ein paar Jahre hörte ich mir ziemlich viel Irrsinn an und bedankte mich am Ende immer sehr artig für das interessante Gespräch. Es waren meistens harmlose und exzentrische Geschichten, wenn ich mich richtig erinnere. Und Exzentriker mochte ich schon immer. Es ging um Stromkästen mit kosmischer Strahlung oder neuartige Wege, Urin im Kinderbecken nachzuweisen. So was. Hätte Trump bei uns angerufen und von Licht und Desinfektionsmitteln gefaselt, wäre er auf der Stelle zu mir durchgestellt worden.

Dann gingen wir in die USA, ich ließ die harmlosen Irren in Deutschland zurück und traf speziell nach 9/11 ziemlich viele neue Irre in New York City.

Michael Streck: Frischluft

Michael Streck, Jahrgang 1964, wurde in Lüdenscheid, am Rande des Ruhrgebiets entbunden und muss sich Zeit seines Lebens Witzchen über Loriots Herrn Müller-Lüdenscheidt anhören.

Er begann als Sportjournalist, wechselte als Reporter ins Deutschland-Ressort des stern und war von von 2001 bis 2008 US-Korrespondent in New York. Von 2014 bis zum Sommer 2019 war Streck Korrespondent in London und schrieb über Brexit, Gesellschaft, Kultur und Exzentrisches fürs Magazin, aber auch an dieser Stelle seine Online-Kolumne “Last Call“. Nun geht es hier weiter mit "Frischluft": Beobachtungen aus dem Alltag in Zeiten der Corona-Pandemie

An einen Abend in New York erinnere ich mich immer wieder. Seinerzeit trafen sich Verschwörungstheoretiker jeden Sonntagabend in der St. Marks Church auf der Lower Eastside, in einer der ältesten Betstätten Manhattans. Sie nannten sich "Wahrheitssucher". Zu Gast war Ralph Schoenman, ein Guru dieser Art Aufklärung.

Rund 250 Männer und Frauen jeden Alters waren erschienen. Viele Männer trugen Baskenmützen, und erstaunlich viele Frauen sahen so aus wie Barbra Streisand. Ich hatte diesen Typus zuvor auch schon in Deutschland gesehen, vornehmlich auf Kirchentagen und Castor-Demonstrationen. 

Irgendwann betrat ein wenig gebückt der kinnbärtige Schoenman die Bühne und monologisierte zweieinhalb Stunden lang. Zusammengefasst ging sein Vortrag so: Hinter den Anschlägen des 11. September steckt die US-Regierung in Zusammenarbeit mit der CIA, mehrere Flugzeugentführer leben noch mitten unter uns, einige aber auch auf einer einsamen Insel im Pazifik. Alles war Plan einer viel größeren Agenda. Und alles wurde ausgeheckt in Washington, um Panik zu verbreiten. Wie die Vogelgrippe. Auch die sei ein Konstrukt der Regierung in Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie.

Als wir ein Foto von der Veranstaltung machen wollten, sagte der Organisator: "Lieber nicht. Sie müssen verstehen, viele dieser Leute sind diesbezüglich etwas paranoid."

Das verstanden wir sofort.

Große Katastrophen generieren große Verschwörungstheorien. Das ist jetzt wieder so. Es ist ja auch eine merkwürdige Zeit. Einige finden im wochenlangen Lockdown zur Besinnung, andere kommen auf dumme Gedanken. So ist der Mensch. Überall übrigens. Dummerweise verabreden sich die mit den dummen Gedanken seit geraumer Zeit und halten sogenannte "Hygiene-Demos" ab. Ein überaus buntes Volk ist da neuerdings unterwegs: Erdogan-, Trump- und Pegida-Fans stehen dicht an dicht neben Impf-Gegnern und linken Staatsverächtern und brüllen gemeinsam Polizisten nieder. Normalerweise würden sie sich gegenseitig nicht mal mit der Kneifzange anpacken, sich anbrüllen und so viel Abstand wie möglich halten. Corona macht aus ihnen eine große Koalition der Spinner. Mittendrin sind gerne auch Vertreter der Q-Bewegung, die glauben eine pädophile Elite hielte in Tunneln Kinder gefangen, das Virus sei lediglich ein Ablenkungsmanöver, und Trump sei der Retter. Für Ostern war eine große Kinderbefreiungsaktion angekündigt. Ein Vorsänger dieses Stuss-Trupps ist der ölige Borderliner Xavier Naidoo. Noch Fragen?

US-Präsident Donald Trump gestikuliert während einer Pressekonferenz mit der rechten Hand

Seit meiner Zeit in New York habe ich jegliche Toleranz für Verschwörungstheoretiker verloren. Sie haben nichts, rein gar nichts mit meinen putzigen Exzentrikern gemein. Ich halte sie nicht nur für dumm und dämlich, sondern inzwischen auch für gefährlich. Am liebsten würde ich ihnen ein zünftiges "Fuck you" zurufen. Das tue ich nur deshalb nicht, weil sie mich womöglich beim Wort nehmen könnten.

Und nicht mal diesen Spaß möchte ich ihnen gönnen.

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