Wer bei deutschen Parteien Mitgliedschaftsanträge bearbeitet, hat aktuell viel zu tun: 1110 Menschen beantragten im Januar online die Linken-Mitgliedschaft, normal seien etwa 335 Anträge pro Monat. Die Zahl bezieht sich nur auf die Online-Anträge, nicht aber Ein- oder Austritte auf anderem Wege. Der Trend erfasst auch andere Parteien: Auf stern-Anfrage teilt ein Parteisprecher der SPD mit, dass sich die Mitgliedsanträge im Vergleich zu einem durchschnittlichen Monat etwa verdreifacht haben. Vor allem in der zweiten Januarhälfte stelle man "eine auffällig hohe Anzahl an Parteieintritten fest". Auch die Grünen freuen sich über besonders viele Neumitglieder. "Wir Grüne konnten seit Anfang Januar über 2600 Eintritte in unsere Partei verzeichnen", erklärt Bundesgeschäftsführerin Emily Büning Ende Januar dem Nachrichtensender ntv. Normal seien etwa 700 Eintritte im Monat.
Auch die CSU verzeichnet höheren Zulauf
Die FDP erklärt auf stern-Anfrage, Mitgliedszahlen grundsätzlich nur jährlich zu veröffentlichen, die CDU kann noch keine Zahlen für den Januar bereitstellen. Ihre bayerische Schwesterpartei nennt auf stern-Anfrage keine Zahlen, erklärt jedoch, "die Eintrittszahlen sind in der zweiten Januarwoche spürbar gestiegen". Am 10. Januar veröffentlichte das Medienhaus "Correctiv" seine Recherche zu einem rechtsextremen Netzwerk-Treffen in Potsdam. Nach der Enthüllung des Geheimtreffens, an dem Rechtsextreme, Mitglieder der Werteunion und ranghohe AfD-Politiker teilnahmen, gingen Hunderttausende in Deutschland gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Ist der Parteienzulauf Teil des Aufstands der Demokraten gegen den zunehmenden Rechtsextremismus in Deutschland?
"Wenn Rechtspopulisten starken Zulauf haben, gewinnen die anderen Parteien"
Für Marcel Lewandowsky könnte zwischen den Massenprotesten und den Anträgen auf Partei-Zugehörigkeit ein Zusammenhang bestehen: Der Demokratieforscher lehrt als Privatdozent an der Universität der Bundeswehr in Hamburg: "Wenn Rechtspopulisten starken Zulauf haben, gewinnen die anderen Parteien", erklärt der Politologe. Das funktioniere auch länderübergreifend: "Als in den USA Trump die Wahl gewonnen hat, hat die SPD mehr Eintritte verzeichnet." Demokratie funktioniere in Deutschland vor allem über Parteien – wenn die Menschen die Demokratie als gefährdet sehen, engagierten sie sich in der Partei, die ihnen politisch am nächsten steht. Das erkläre auch den Zulauf bei der AfD: Auf stern-Anfrage teilte die Partei mit, dass im Januar über 3600 Mitgliedseinträge eingegangen sein: Das entspreche in etwa einer Verdoppelung in Bezug auf frühere Monate.
Die Demos polarisieren – davon profitiert die AfD
So absurd es auch klingt: Viele AfD-Sympathisanten sehen in den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus einen Angriff auf die Demokratie, so Parteienforscher Marcel Lewandowsky: "Die Demonstrationen werden von vielen Menschen, die die AfD unterstützen, als undemokratisch und von der Regierung gelenkt wahrgenommen: Als ein weiterer Versuch, die Meinungsfreiheit zu beschneiden." Die AfD befeuere dieses Narrativ, indem sie sich in der Opferrolle inszeniert: So verglich Björn Höcke die Demos mit Aufmärschen der Nazis am Tag der Machtergreifung Hitlers: "Man hat zwar Taschenlampen, also Handyleuchten in den Himmel gehalten. Aber es sah so ein bisschen aus wie 1933 bei Fackelmärschen der Nazis." Zuerst berichtete Mitte Januar die "Bild"-Zeitung darüber. "Den AfD-Anhängern geht es darum, das, was sie für die Demokratie halten, zu retten", erklärt Marcel Lewandowsky. Viele von ihnen ziehen dem Politikwissenschaftler zufolge nun wohl die Konsequenz, in die AfD einzutreten.
Rücktritte, Distanzierungen, Entlassungen: Diese Folgen hatte das rechte Netzwerktreffen bislang

Herrschen in Deutschland bald Verhältnisse wie in den USA?
AfD-Sympathisanten lebten dadurch zunehmend in einer eigenen Welt, die mit den Ansichten der anderen im Bundestag vertretenen Parteien unvereinbar sei. Eine Polarisierung wie in den USA, wo sich Republikaner und Demokraten unversöhnlich gegenüberstehen, sieht Parteienforscher Lewandowsky aber nicht: In Deutschland seien die beiden Lager nicht gleich groß. Die anderen Parteien könnten die Demokratie vor der rechtspopulistischen bis rechtsextremen AfD schützen – falls sie eine Zusammenarbeit mit ihr weiter konsequent ausschließen. "Diese Konsequenz bröckelt jedoch", warnt Marcel Lewandowsky: Die Union bewege sich inhaltlich auf die AfD zu und habe sich noch nicht entschieden, wie sie in Ostdeutschland auf Länderebene mit der AfD zusammenarbeiten will. Dabei komme es gerade jetzt darauf an, dass sich nicht nur die politische Linke, sondern auch das bürgerlich-konservative Lager klar gegen die AfD positioniert.
Quellen: "Correctiv", ntv, "Zeit", "Bild"-Zeitung, Nachrichtenagentur DPA.
Hinweis: Wir haben die Zahl der Mitgliedsanträge bei der AfD aktualisiert.