Seit einigen Wochen geht es für die Ukraine an wichtigen Frontabschnitten nur zurück. Die Meldungen aus Kiew, dass es sich dabei keineswegs um Niederlagen handle, sondern um siegreiche taktische Rückzüge, werden von vielen nicht geglaubt. Zumal die Toten auf ukrainischer Seite im Netz Spuren hinterlassen. Doch trotz des Verlustes der gesamten Oblast Luhansk ist der Krieg für Kiew nicht verloren. Diese Punkte werden ihn entscheiden.
Bessere Position im Donbass
Die Verluste beider Seiten sind ein undurchdringliches Geheimnis. Sicher ist nur, dass die offiziellen Zahlen nicht stimmen. Doch angenommen Kiew habe den größten Teil seiner Soldaten aus dem Pocket bei Lyssytschansk herausziehen können und die russischen Truppen sind tatsächlich so angeschlagen, wie berichtet. Dann haben die ukrainischen Streitkräfte durchaus die Chance, nur wenig weiter westlich eine solide Verteidigungslinie aufzubauen, die sich von Sewersk bis Bachmut spannt und dabei den geografischen Vorteil eines Höhenzuges nutzt. Gelingt es, diese Linie zu halten, dann hat Putin zwar zwei zerschossene Großstädte erobert, kann den lokalen Sieg aber nicht zu einem echten Durchbruch nutzen.
Kiew hat mehr Soldaten als Moskau
Das etwa 3,5-fach größere Russland hat weniger Soldaten im Feld als die Ukraine. Solange Putin vorgibt, es sei gar kein Krieg, sondern nur eine Spezialoperation kann er nicht auf die Bevölkerung zurückgreifen. Die Ukraine hingegen hat eine umfassende Wehrpflicht erlassen und setzt sie rücksichtslos durch. Wie stark das ukrainische Militär ist, bleibt ein Geheimnis, doch das Personalreservoir reicht für eine Millionenarmee. Die allerdings ausgerüstet und ausgebildet werden muss. Wenn das mit westlicher Hilfe gelingt, wären die russischen Streitkräfte hoffnungslos outnumbered. Derzeit verstärken sich die russischen Streitkräfte mit einem Trick: Anstatt der Einberufung vertraut der Kreml auf den Lockruf des Geldes und heuert immer mehr private Contractors an – im Westen meist unter dem Stichwort Wagner Gruppe zusammengefasst. Das ist innenpolitisch clever, könnte aber gegen ein ausgehobenes Massenheer nicht ankommen.
Hightech gegen Altmetall
Es ist realistisch, anzunehmen, dass Moskau durch die Sanktionen den Bedarf an Halbleitern für moderne Rüstungsgüter nicht wird decken können. Da auch zivile Chips von den Sanktionen erfasst werden, ist der Ausweg versperrt, Bauteile für Autos und Waschmaschinen zweckzuentfremden. Dieser Mangel wird dazu führen, dass der russischen Seite Präzisionswaffen ausgehen. Auch moderne Rüstungssysteme können weder produziert noch repariert werden. Wenn Kiew derartige Waffen aus dem Westen erhält, wird es schnell ein ungleicher Kampf. Die eine Seite muss mit Gerät auf dem Stand der 1960er operieren, während die ukrainischen Streitkräfte zumindest partiell mit modernstem Gerät ausgerüstet sind.

Die stärkeren Fabriken
Ob Russland wirtschaftlich wirklich nur ein Zwerg ist, mag man bestreiten, aber unstrittig ist, dass die russische Rüstungsindustrie weit kleiner ist als die des vereinten Westens und überdies noch durch die Sanktionen behindert wird. Der Westen kann einen so großen Zustrom an Rüstungsgütern aller Art in die Ukraine organisieren, dass Moskau niemals hinterherkommt. Dafür ist nur der politische Wille nötig, eine entsprechende Gesetzgebung und entsprechende Finanzmittel. Von allein kann die Rüstungsindustrie nicht auf den Modus "Kriegswirtschaft für die Ukraine" umschalten. Sie kann nur produzieren, wenn jemand die Kosten trägt. Überdies müssen gesetzliche Regelungen eine Vorzugsbehandlung Kiews absichern, denn in der Praxis würde das bedeuten, dass andere Kunden weit länger auf ihre Bestellungen warten können, wenn Kiew zeitnah zum Zuge kommen soll.
Die Möglichkeiten sind da – aber ist es auch der Wille?
Die genannten fünf Faktoren sind nicht garantiert. Schon bei der Versorgung mit Ausrüstung und Rüstungsgütern zeigt sich der fehlende politische Wille im Westen, oder die Illusion, zu glauben, dass Kiew Russland mit dem Gerät besiegen könnte, dass im Westen einfach so übrig ist. Mit dem deutschen Beitrag von sieben Panzerhaubitzen wird sich dieser Krieg nicht wenden lassen. Und ob Moskau normale und smarte Ausrüstung bald ausgehen ist auch ein Wunsch, der im Wesentlichen davon abhängt, ob der Westen andere Länder zwingen kann, die Sanktionen nicht zu unterlaufen.