Nachtflug aus den Vereinigten Staaten zurück nach Europa: Der Airbus hatte vor zwei Stunden in Charlotte in US-Bundesstaat North Carolina zu dem gut zehnstündigen Flug nach München abgehoben. Die Flugbegleiter haben die Reste des Abendessens eingesammelt und das Kabinenlicht abgedunkelt. Die meisten Passagiere bereiten sich auf die Nacht vor.
Doch im Heck, im rechten Gang der Economy Class, beugen sich mehrere besorgte Crew-Mitglieder über eine Person. Dann erfolgt eine kurze interne Durchsage: "MD auf 54H". Wenige Minuten später wendet sich die die Kabinenchefin über die Lautsprecher an alle Passagiere und stellt die Frage: "Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Ist ein Arzt an Bord?"
Es gibt einen medizinischen Notfall an Bord dieses Lufthansa-Fluges. Ein Medical Doctor (MD) für einen Fluggast auf dem Sitzplatz 54H wird gesucht. Im selben Moment erheben sich ein Herr und eine Dame aus dem Halbdunkeln. Beide gehen nach hinten und sprechen mit der Crew und dem betroffenen Fluggast.
An Bord des Airbus A340-600 bleibt es ruhig. Von Hektik keine Spur. Nach einer Viertelstunde kommt eine Flugbegleiterin mit dem Piloten im Schlepptau. Dieser sieht sich die erkrankte Person ebenfalls an und berät sich mit den beiden Ärzten, um den Ernst der Lage einzuschätzen. Soll die Maschine in Boston eine außerplanmäßige Landung einlegen, ehe es weiter Richtung Grönland und den Nordatlantik geht?
Defibrillator an Bord
Zu medizinischen Notfällen kommt es in 85 Prozent auf Langstreckenflügen, wie das "Ärzteblatt" schreibt. Meist haben die betroffenen Menschen Glück, denn in 80 Prozent befindet sich eine medizinische Fachkraft an Bord. Nach Angaben der Lufthansa gab es in diesem Jahr 2100 medizinische Meldungen, davon 450 mit Beratungsgesprächen zwischen Cockpit und dem medizinischen Beratungszentren am Boden. Das Spektrum der Beschwerden, auf die Crews reagieren müssen, reicht von Kopfschmerzen, Erste-Hilfe-Leistungen bis hin zu Geburten und Wiederbelebungsversuchen.
"Die häufigsten Handlungen an Bord sind das Blutdruckmessen, gefolgt von der Gabe von Medikamenten und dem Verabreichen von Sauerstoff", schreibt das "Ärzteblatt". Nicht nur in Erster Hilfe werden Flugbegleiter regelmäßig geschult. Auch der Einsatz des Defibrillators, den Fluggesellschaften wie Lufthansa und Air Berlin in ihren Flugzeugen mit sich führen: Bei Herzstillstand kann dieses medizinische Gerät durch gezielte Stromstöße Leben retten. Bei Lufthansa kam er 2016 bereits 57 Mal zum Einsatz. Auch gehört das Üben von Herz-Lungen-Wiederbelebung, von Maßnahmen einer äußerst seltenen Geburt an Bord und Rollenspielen zur besseren Kommunikation aller Beteiligten in einer medizinischen Notsituation zum Trainingsprogramm.
Die häufigsten Beschwerden
Laut Michael Sand von der medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, der mehr als 10.000 medizinische Notfälle analysierte, gehören zu den häufigsten Beschwerden Ohnmachtsanfälle, Magen-Darm-Beschwerden und Kreislaufprobleme. "Erkrankungen, die ein chirurgisches Eingreifen erfordern, waren selten", heißt es in seinem Bericht. Thrombosen, vor denen bei Flugreisen häufig gewarnt wird, kamen nur in 0,5 Prozent der Fälle vor. Allerdings treten Reisethrombosen durch das lange Sitzen selten während, sondern erst nach einem Flug auf und werden dementsprechend in der Statistik nicht erfasst.
Sollte kein Arzt an Bord sein, können die Crews auch mit medizinischem Fachpersonal am Boden Kontakt aufnehmen, die bei der Einschätzung, den nächsten Airport anzufliegen, helfen. Letztes Wort über eine außerplanmäßige Landung hat allerdings der Pilot an Bord. Beide Flugkapitäne tauschen sich im Cockpit während des Reisefluges auch aus anderen Gründen regelmäßig über den nächstgelegen Ausweich-Airport aus.
"Doctor on Board"
Bereits 40 Mal mussten Jets der Lufthansa in diesem Jahr eine ungeplante Zwischenlandung aus medizinischen Gründen einlegen. Im Voraus wird über Funk ein Notarztwagen für den Krankentransport geordert. Für die mitreisenden Passagiere bedeutet der zusätzliche Stopp stets eine Verlängerung der Reisezeit um mindestens eine Stunde. Problematisch wird es, wenn die Arbeitszeiten der Besatzungsmitglieder dadurch überschritten werden und eine neue Crew angefordert werden muss. Das verzögert die Weiterreise erheblich.
Lufthansa hat schon vor Jahren das Programm "Arzt an Bord" ins Leben gerufen. Per Fax können sich Ärzte, die in Maschinen der Lufthansa reisen, im Zusammenhang mit dem Miles & More-Programm registrieren. So wissen die Flugbegleiter durch die Passagierliste, wo ein Arzt an Bord Platz genommen hat und welche Facharztqualifikation die Person hat. Die Airline belohnt die Bereitschaft mit Prämienmeilen und einem "exklusiv für Programmteilnehmer gestalteten Kofferanhänger 'Doctor on Board'".
Dem erkrankten Passagier an Bord des eingangs erwähnten Transatlantikfluges nach München scheint es inzwischen besser zu gehen. Die Ärzte haben wieder Platz genommen. Bei beiden bedankt sich die Kabinenchefin und reicht ihnen als Dank einen Gutschein in Höhe von 50 Euro für den Bordshop aus.
Unverständnis bei Passagieren
Bei einem Condor-Flug von München nach Punta Cana am 6. Dezember, als an Bord ein Passagier offenbar einen Schlaganfall erlitten hatte, stieß die Entscheidung, einen Zwischenstopp in Neufundland einzulegen, bei einigen Passagieren auf Unverständnis. "Das ist leider ein weit verbreitetes Phänomen", sagte ein Condor-Sprecher dem stern. Der Condor-Fall während der Adventszeit hatte im Netz für Aufsehen gesorgt. Der Pilot musste demnach mehrere Durchsagen machen, um die Situation zu entschärfen. Das war kein Einzelfall.
Deshalb werden die Flugbegleiter des Ferienfliegers bei ihrem jährlichen Training nicht nur in Erster Hilfe, sondern auch in Deeskalationstaktiken geschult – nicht nur gegenüber alkoholisierten Fluggästen, sondern auch gegenüber Passagieren, die bei medizinischen Notfällen anderer Mitreisender renitent werden. Der Pressesprecher kann dem Vorfall aber auch etwas Positives abgewinnen: "Die Crews freuen sich, dass endlich eine Diskussion zu diesem Thema in Gang gekommen ist", erklärte er.