Als die Malocher aus dem Ruhrgebiet noch Kohle förderten und Stahl kochten, besaßen viele von ihnen hinter dem Haus einen Gemüsegarten mit einem Taubenschlag. Am Wochenende brachten sie ihre besten Tauben in vergitterten Holzkistchen zu einem Taubenspediteur. Der fuhr die Vögel in die große, weite Welt. Nach München etwa oder nach Wien. Dort wurden sie zu einer vereinbarten Zeit freigelassen und flogen über viele hundert Kilometer nonstop zu den heimatlichen Schlägen zurück, wo die Züchter der Heimkehr ihrer wertvollen Vögel entgegenfieberten. Sobald der schnellste Flieger auf dem Dach landete, musste man ihn so rasch wie möglich zu fassen kriegen, um ihm den Beinring abnehmen zu können. Denn egal, wie schnell die schnellsten und teuersten Tauben geflogen waren: Ohne deren Beinringe konnten die Züchter die laufenden Taubenstoppuhren nicht anhalten. Für die Sieger gab es im Vereinslokal Geldpreise.
Nach den langen Flügen
dachten die Tauben aber oft nicht daran, sofort in den Schlag zu hüpfen. Sie hockten auf dem Dach und ruhten sich aus, während unten die Taubenväter verzweifelt gurrten, um sie durch die Abflugluke ins Innere zu locken. Wegen der nervtötenden Hockerei auf dem Dach gewannen deshalb oft die billigeren, weniger schnellen und deshalb als Spatzen verspotteten Tauben und nicht die teuren Stars.
Aus dieser Zeit stammt eine Volksweisheit, die im Ruhrpott jeder verinnerlicht hat, bis heute: "Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach."
Im fünften Stock unter dem Dach des Hauses Rheinlanddamm 207-209 in Dortmund sitzt Doktor Gerd Niebaum, Vorstandsvorsitzender der "Borussia Dortmund GmbH & Co KG auf Aktien", dem einzigen an der Börse notierten Fußballklub Deutschlands. Ihm geht es seit einem Jahr ähnlich wie den Taubenvätern. Er besitzt die teuersten Vögel der Bundesliga. Den brasilianischen Stürmer Amoroso etwa, 4,5 Millionen Euro Jahresgehalt, den deutschen Eisenfuß Wörns (4,2 Mio), den von Real Madrid ausgeliehenen Brasilianer Conceicao (3,5 Mio), das böhmische Wunderkind Rosicky (3,5), den tschechischen Zwei-Meter-Mann Koller (3 Mio) und so weiter und so fort. Selbst der Reservetorwart verdient ein Vielfaches dessen, was der Bundeskanzler bekommt. Insgesamt kostet Niebaums Spielerkader 57 Millionen Euro pro Jahr. Die Mannschaft ist damit fast fünfmal so teuer wie das Spatzengeschwader vom 20 Kilometer entfernten Nachbarn VfL Bochum. Nur: Bochum liegt mit 29 Punkten auf Platz fünf der Tabelle, Dortmund aber mit 25 Punkten auf Rang sieben, aussichtslos weit zurück hinter den beiden ersten Tabellenplätzen, die an die Fleischtöpfe der Champions League führen. Dort stehen derzeit Werder Bremen (23 Millionen Gehaltskosten) und der VfB Stuttgart (22 Millionen). Und was die Fans genauso schmerzt: Dortmund verlor am vergangenen Wochenende sogar das Derby gegen den ewigen Rivalen, gegen Schalke 04, zu Hause, kurz vor Schluss. Schlimmer geht's kaum.
Wie einst die Taubenväter sitzt nun Niebaum in seinem Besprechungszimmer und versucht, in einer Mischung aus unterdrücktem Zorn und wohlklingendem Gurren, die Schlagzeilen abzumildern, mit denen die überregionalen Medien seit Wochen auf ihn einprügeln: "Bild", die "Süddeutsche", die "FAZ", die "Zeit", der "Spiegel", das zahme "Handelsblatt" gar und auch der stern, auf den er besonderen Bock hat, weil der stern in der Woche vor dem Börsengang im Jahr 2000 davor gewarnt hat, Aktien von Borussia Dortmund zu kaufen.
Borussia sei nicht pleite
, die Berichte seien alle nicht sorgfältig recherchiert, die Informationen stammten von Leuten, die nur aus der Peripherie seiner Fußball-AG kämen und und und. Er neigt zum Schwadronieren und lässt sich nur widerwillig von Zwischenfragen unterbrechen, denn in Dortmund und erst recht in seinem Verein ist der mächtige Chef keine Widerworte gewohnt. Bei all den Vorwürfen, sagt er, werde auch vollkommen übersehen, was er während seiner nunmehr 18-jährigen Präsidentenzeit (er ist der dienstälteste unter den Liga-Bossen) für die Stadt und den Verein geleistet habe.
Das ist wahr. Die Stadt Dortmund ist bitterarm. Sie hat durch die Schließung ihrer Stahlwerke und Kohlezechen 70 000 Arbeitsplätze verloren. Stadtweit liegt die Arbeitslosenquote bei 14,2 Prozent. In den besonders gebeutelten Stadtteilen, etwa im Hoesch-Viertel rund um den Borsigplatz, ist sie auf über 25 Prozent gestiegen - so hoch wie in der Ex-DDR. Entsprechend sieht es dort aus. Schwarze Nachkriegs-Mietshäuser, in deren Außenputz der Ruß von 60 Jahren haftet. Schmuddelige Schaufenster bankrotter Läden, mit schmuddeligen Tüchern verhängt. Bei so viel Tristesse - das wussten schon die alten Römer - braucht der Mensch Brot und Spiele. Das Brot liefert das Sozialamt. Die Spiele bisher Niebaum. Große Spiele. Jahrelang hat der Glanz der Borussia das düstere Gemüt dieser Stadt erhellt, Gastwirten und Hoteliers zu erträglichen Einnahmen verholfen.
Der Borsigplatz im besonders düsteren Norden ist die Wiege von Borussia Dortmund. Hier ist der Ballspiel-Verein Borussia am 19. Dezember 1909 im Gasthaus Zum Wildschütz gegründet worden, vom Wirt und 17 fußballbegeisterten Stahlarbeitern, allesamt Sozialisten und Kommunisten. Deshalb starten die Autokorsos bei den Meisterfeiern immer hier. Die millionenschweren Stars wundern sich dann regelmäßig, in welch erbärmlicher Gegend der Triumphzug zum Friedensplatz am Rathaus beginnt, und können sich nicht vorstellen, dass hier ein späterer Champions-League-Sieger geboren ist.
Ein Stammspieler des ersten deutschen Europapokal-Gewinners Borussia Dortmund heißt Dieter Kurrat, Spitzname Hoppy. Hoppy, 1942 am Borsigplatz geboren, arbeitete als Drahtzieher im Stahlwerk Hoesch, kam mit 15 zur Borussia, wurde von Max Merkel entdeckt und mit 18 Vertragsspieler. Von da an musste er nur noch halbtags arbeiten. Sein erstes Monatsgehalt: 300 Mark. Hoppi ist 162 Zentimeter klein und stottert. Doch der Kleinste von allen hatte 1963 beim Achtelfinal-Hinspiel um den Europapokal der Landesmeister in Lissabon den Weltstar Eusebio dermaßen im Griff, dass Benfica seinen Superstürmer im Rückspiel gar nicht erst aufbot. Dortmund gewann 5 : 0. In dieser Zeit hat Hoppy sein Gehalt von 300 Mark auf stramme 1800 Mark gesteigert, musste aber immer noch halbtags arbeiten.
Lars Ricken dagegen, der einzige Dortmunder in der aktuellen Elf, spielt seit dem Abitur als Profi beim BVB und bekommt zwei Millionen Euro Gehalt. In D-Mark wären das 326 000 im Monat, das 183-Fache von Kurrat. Ricken gehört, wie Kurrat, zu den ewigen Dortmunder Helden, sitzt aber oft auf der Bank. Zu sprechen sei er nicht für den stern, heißt es aus dem Pressebüro des BVB. Ricken gelang beim Champions-League-Finale gegen Juventus Turin 1997 in München der Siegtreffer.
Nach diesem größten aller Siege sind sie beim BVB leider größenwahnsinnig geworden. Der Glanz, der über der schon damals deprimierend grau-schwarzen Stadt strahlte, sollte nun für immer strahlen. Präsident Niebaum, der den Klub von Erfolg zu Erfolg geführt hatte, bekam den Fuß nicht mehr vom Gas. Der Verein, der kurz darauf in Tokio gar noch den Weltpokal gewonnen hatte, sollte fortan in einer Reihe stehen mit Real Madrid oder AC Mailand.
Die Fussballstrategen
vom BVB bauten, um mit diesen Clubs gleichzuziehen, das Westfalenstadion in drei Stufen mit nunmehr 83 000 Plätzen zur größten Fußballarena Deutschlands aus, gründeten die Sportartikelfirma "goool", ließen Internetportale einrichten, betreiben eine Rehabilitationsklinik namens "Orthomed", eröffneten das Reisebüro "best", kauften das idyllische Hotel Lennhof, in dem die Mannschaft vor Heimspielen nächtigt, ließen alles und jedes mit Werbung für Sponsoren voll kleben, zahlten Transfersummen, bei denen Bayern München abgewunken, und Spielergehälter, die es in Deutschland nie zuvor gegeben hatte. Uneinsichtig gegen Warnungen gingen Niebaum und Manager Michael Meier ein Risiko nach dem anderen ein. Der Klub, der sich so gerne als Klub der kleinen Leute geriert, verlor durch seine Vereinsbosse die Bodenhaftung. Dagegen ist der als arrogant verschriene FC Bayern volksnah.
Im Jahr 2000 brachten Niebaum und Meier den BVB an die Börse. Rund 130 Millionen Euro rauschten in die Klubkasse. 70 Millionen davon waren gleich weg, weil: Die hatten schon vorher gefehlt. Vom Rest des Geldes kaufte der Verein Spieler. Allein für Amoroso, Rosicky und Koller waren auf einen Schlag fast 50 Millionen Euro futsch. Futsch ist inzwischen auch das 129 Millionen teure Stadion - in großer Not verscherbelt an eine Kapitalgesellschaft mit dem Recht, es nach zwölf Jahren zurückkaufen zu dürfen. Aber wovon?
Der Präsident, privat Inhaber und Partner einer 120 Leute starken Anwalts- und Notarpraxis genießt in Dortmund Heiligenstatus. Wenn er mit seinem S-Klasse-Mercedes aufkreuzt (zeitweise mit der Nummer DO-N 1909), fallen die Verehrer fast auf die Knie. Der Oberbürgermeister hofiert ihn. Der Ministerpräsident hofiert ihn. Er wurde zum "Bürger des Reviers" ernannt. Bundeskanzler Schröder ist Ehrenmitglied beim BVB; angeblich duzen die Herren sich.
Die Aktie? Hat am ersten Tag des Börsenhandels 22 Mark gekostet, rutschte von da an kontinuierlich in den Keller und wurde nach der Heimniederlage gegen Schalke zu Wochenbeginn bei 2,96 Euro, also 5,79 Mark gehandelt. Für die Anleger verbranntes Geld. Und für den BVB verspielte Zukunft. Die ganze Vereinspolitik aus dem Scheckheft ist von den Millionarios auf dem Rasen nicht eingelöst worden. Dortmund glaubte, teure Profis garantieren noch mehr Geld. Das ist aber nur in der Champions League zu verdienen. Dort hat sich die Borussia aber in der vergangenen Saison keinen Startplatz erkämpft, und in der laufenden kann das auch nicht mehr klappen. Selbstgefällige Stars garantieren nur Ärger und Frust.
Zum Jahresbeginn saßen drei der Ringeltauben aus Südamerika zwar nicht auf dem Dach, aber in Brasilien und erschienen einfach nicht zum Training. Letzten Freitag, als sich Niebaum gegen Schalke für seine Fußball-Kathedrale feiern lassen wollte, klappte alles wie am Schnürchen. Perfekte Organisation, perfekter Service, perfektes Marketing. Nur das Kerngeschäft ging mal wieder daneben. Trainer Matthias Sammer, den der Präsident wegen seiner Verdienste als Spieler um die Borussia für unkündbar erklärt hatte, verlor die Nerven und schrie im Kabinengang den Schiedsrichter an: "Hier geht's um meinen Kopf!"
Sammer ist eh schon überfordert mit der Führung dieser schwerfälligen Truppe, die seine Taktik - immer lange Bälle auf den langen Sturmtank Koller - reserviert runterspielt. Jetzt steht er noch mehr unter Druck, weil er durch sportliche Erfolge das Finanzchaos ausbügeln muss, was Hasardeur Niebaum angerichtet hat. Sammer könnte dennoch seinen Job (Vertrag bis 2006) behalten, weil eine Trennung den Verein acht Millionen Euro kosten würde.
Nach der verdienten 0 : 1-Niederlage gegen Schalke wurde der BVB in nie gehörter Lautstärke ausgepfiffen, denn die gigantischen Tribünendächer echoten die Pfiffe zurück, dass das Trommelfell schmerzte. Und hinterher, in den Kneipen im Kreuzviertel nahe dem Stadion, fragten sich die Fans, wofür Niebaum als Vorstand der Borussia AG eigentlich die angebliche Million Gehalt pro Jahr bekommt, wenn er als Anwalt und Notar für das Ausarbeiten der zahllosen Millionenverträge hohe sechsstellige Eurobeträge zusätzlich einstreicht.
Für die laufende Saison droht ein Minus von 50 Millionen Euro. Großverdiener wie Rosicky, Koller oder Amoroso müssen dringend weg. Doch der Transfermarkt ist international zusammengebrochen. Für den Verkauf seiner Stars wird Niebaum wesentlich weniger bekommen, als er zuvor für sie ausgegeben hat.
Hilfe erhofft sich der BVB nun von einem US-Finanzmakler namens Schechter. Der Geldbeschaffer betreibt ein schmuckloses Vier-Mann-Büro in London, winkte aber mit einem Hundert-MillionenKredit. Gegenleistung: Borussia Dortmund soll ihm auf Jahre hinaus seine Zuschauereinnahmen verpfänden. Doch ob 83 000 Besucher auch noch zu einem Mittelmaßgekicke kommen würden? Schechter ist sich da nicht mehr sicher und stellt das ganze Geschäft infrage. Die Zuschauer, aus tiefstem Herzen mit dem einstigen Arbeiterverein verbunden, beginnen zu begreifen, dass traurige Fußballjahre auf sie zukommen. Wie schlimm muss es um ihren BVB bestellt sein, wenn dieser großartige Verein, dessen Ordner auf den VIP-Tribünen in ihren vornehmen blauschwarzen Anzügen wie Bankiers aussehen, selbst kleine Rechnungen nicht bezahlt, weil er sie monatelang "prüfen" muss.
Um den BVB steht es beschissen
, doch darüber wird im Dortmunder SPD-Rathaus nur verstohlen getuschelt. Offiziell sagt Stadtsprecher Gerd Kolbe, ehemaliger Pressechef des BVB: "Die Stadt und Borussia machen den Schulterschluss. Herr Doktor Niebaum hat für die Stadt unschätzbare Verdienste. Dortmund hat ja sonst nichts mehr, womit es glänzen kann." Klammheimlich hängt aber über dem Pissoir der Herrentoilette im Rathausrestaurant, in Augenhöhe und eingerahmt, ein Artikel aus dem Fußballmagazin "Kicker" mit der Überschrift: "BVB - kein Entrinnen aus dem Teufelskreis". Denn die örtlichen Zeitungen, die "Ruhr Nachrichten" und die "Westfälische Rundschau", berichten nur ungern und zögerlich über die Krise. Wenn der Herr Doktor Niebaum beim Verleger anruft, wird er sofort durchgestellt.
Hoppy Kurrat dagegen, der stotternde Kampfzwerg vom Borsigplatz, der seit seinem Abschied vor 30 Jahren im Vorort Holzwickede als Wirt von "Hoppy's Treff" Bier zapft und erstklassige Steaks serviert, sozusagen den Spatz in der Hand hat statt der Taube auf dem Dach, Hoppy braucht seine Meinung nicht hinter der Klotür zu verstecken. Er sagt spontan, was das Geschäftsgebaren des Präsidenten für ihn ist: "Wawawahnsinn!"