Da stand Bernd Neuendorf im Studio von Bild TV und wurde von drei Moderatoren zu allen Themen rund um den DFB befragt. Und von denen gibt es ziemlich viele, deshalb dauerte die Befragung fast eine Stunde. Die Zukunft des Trainers über das EM-Turnier hinaus, die Schwäche der Doppelsechs, kreative Lösungen auf der Außenverteidiger-Position, die Stimmung im Olympiastadion, der Umgang des DFB mit dem Angriff auf Israel, der Ärger bei der Frauen-Nationalelf, die WM in Katar, das Verhältnis zur Fifa. Es gab einiges zu besprechen.
Neuendorf war bemüht, alle Fragen nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Als ehemaliger Politiker, der ein paar Jahre Staatssekretär im Familien- und Sportministerium in Nordrhein-Westfalen war (für die SPD), kann er das. Er besitzt zudem die Fähigkeit, viel zu sagen, ohne das man hinterher so genau weiß, was er eigentlich gesagt hat. Neuendorfs Reden hat etwas Einlullendes. Doch einen Punkt sprach der DFB-Präsident in aller Klarheit aus. "Wir spielen ein Turnier im eigenen Land", sagte er mit Blick auf die Europameisterschaft nächstes Jahr. Da müsse das Erreichen des Endspiels "der Anspruch" sein.
Klare Ziele sind wichtig
Nun ist es richtig und gut, wenn ein DFB-Präsident klare Ziele formuliert. Jeder weiß, woran er ist. Es wird kein Freifahrtschein für die Akteure ausgestellt.
Solche Aussagen entfalten aber nur eine Wirkung, wenn sie auf einer realistischen Einschätzung der Lage beruhen. Sie dürfen keinesfalls überzogen sein, ansonsten verkehrt sich der gewünschte Effekt in sein Gegenteil. Der Druck wird kontraproduktiv. Eine überzogene Erwartungshaltung kann nur enttäuscht werden.
Leider ist Neuendorf genau das passiert. Wenn er von einem "Anspruch" redet, dass die deutsche Elf das EM-Finale erreicht, ist er offensichtlich mit einer inneren DFB-Logik infiziert, die sich von der Realität abgekoppelt hat. Seit 2018, und das ist jetzt immerhin schon fünf Jahre her, gibt die DFB-Elf ein eher mittelmäßiges Bild ab. Zwei Weltmeisterschaften und eine Europameisterschaft hat sie komplett vergeigt. Hansi Flick hat als Nachfolger von Joachim Löw zwei Jahre lang versucht, die deutsche Mannschaft auf ihr früheres Leistungslevel zu heben. Vergebens.
Die Niederlage gegen die Türkei hat gezeigt, dass auch unter Julian Nagelsmann die alten Probleme fortbestehen. Die deutsche Elf ist in der Lage, jede Mannschaft der Welt zu besiegen, sie kann aber auch jederzeit gegen vermeintlich schwächere Gegner verlieren.
Die Realität für die DFB-Elf heißt Mittelmaß
Es ist an der Zeit, eine Debatte zu führen, wie sie schon 2018 nach Löws Rücktritt kurz aufkeimte: Ist die aktuelle Generation einfach nicht so gut, wie es die 2014er war? Trotz der zahlreichen Offensiv- und Mittelfeld-Talente, die zweifelsohne Weltklasse-Qualitäten haben. Oder andersherum: Hat sich der Fußball möglicherweise gewandelt, ist die Konkurrenz stärker geworden? Ist die Qualität einzelner Spieler vielleicht nicht mehr der entscheidende Punkt, sondern Taktik, Disziplin, Einstellung? In Berlin trat die türkische Mannschaft auf jeden Fall leidenschaftlicher und engagierter auf als die DFB-Elf.
Für das deutsche Team heißt die Realität Platz 16 in der Fifa-Weltrangliste. Das ist Mittelmaß.
Leider sind die Erkenntnisse bei vielen im DFB nicht angekommen. Es herrscht nach wie vor das alte Standesdenken vor, nach dem Deutschland quasi automatisch ganz oben steht. Dennoch kann die Nationalelf das EM-Finale erreichen und sogar gewinnen. Zu was sie in der Lage ist, hat sie zuletzt im Spiel gegen Frankreich gezeigt. Nur sollte man daraus keinen "Anspruch" formulieren.
Wer glaubt, dass Deutschland automatisch zu den Favoriten gehört, verkennt die Lage, unterschätzt die Gegner und macht somit alles nur noch schlimmer. Vielleicht ist das das größte Problem.