Andreas Lesch ("Berliner Zeitung") prüft die glatte Oberfläche der Nationalmannschaft: "Bierhoff und Löw haben aus dem Fußball eine Wissenschaft gemacht. Sie haben eine gigantische Maschinerie kreiert, die permanente Perfektion suggeriert. Sie inszenieren die Nationalmannschaft als Hightech-Unternehmen, in dem jedes Detail durchgestylt ist. Sie logieren während der EM in einem Fünf-Sterne-Hotel, aber sie haben dieses Hotel natürlich noch optimiert. ‚Wir haben versucht, kleine Inseln zu schaffen und die Räume noch loungiger zu machen', hat Bierhoff erzählt. Das Problem ist nur, dass das Leben nicht immer eine Lounge ist. Es ist auch mal ein Abstellraum. (…) Alles bei der deutschen Mannschaft ist wichtig und geheim: die Aufstellung, das Training. Die Trainer vermitteln ihrer Mannschaft, dass sie nur das DFB-Trikot anziehen und ihren Stil durchsetzen muss, dann wird alles gut. Doch was, wenn diese Theorie sich als falsch erweist und Löws Team in der Praxis scheitert?"
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Michael Ashelm ("Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung") mutmaßt, für den Fall des Ausscheidens, über einen Trainerwechsel: "Es steht viel auf dem Spiel. Die vierte Niederlage im 25. Spiel könnte durchaus das Ende für Löw bedeuten. Das wird derzeit zwar von den Führungskräften des DFB bestritten, auch vom Präsidenten Theo Zwanziger. Die Gewalt des Augenblicks hat aber schon in der Vergangenheit einige Trainer nach einem überraschenden Aus bei einer EM zur Aufgabe gezwungen (Derwall, Ribbeck, Völler). Ginge Löw, könnte auch das einst von Klinsmann unter größten Widerständen eingeführte System zur Disposition stehen - personell wie inhaltlich. Und gibt es da nicht noch Matthias Sammer? Von dem wird behauptet, dass er ganz gerne mal Nationaltrainer werden würde. Seine Stelle des Sportdirektors wurde auch geschaffen, um im Fall eines Trainerwechsels eine schnelle Übergangslösung präsentieren zu können. Als enger Freund von Löw und Bierhoff gilt Sammer jedenfalls nicht."
Christof Kneer ("Süddeutsche Zeitung")
moniert die Personalstrategie des Bundestrainers: "Im Moment erweckt Löws Kader den Anschein, als wäre er nicht wirklich betriebssicher - was wohl weniger an jenen Kandidaten liegt, die Löw zu Hause gelassen hat (Marin, Helmes, Hilbert). Viel eher fällt ins Gewicht, dass die Mittelfeldformation bisher so streng aufs Flügelspiel ausgerichtet war, dass sich für strategischere Kräfte wie Hitzlsperger, Borowski oder auch Rolfes keine Verwendung fand. Wenn die Halbpositionen gestrichen werden und alle Strategen ausschließlich als Backups für Ballack und Frings taugen, dann fallen weitere Optionen weg - so ist aus einem 23er-Kader ein gefühlter 16er-Kader geworden. Deutschland spielt bisher in Unterzahl."
Marc Heinrich ("Frankfurter Allgemeine Zeitung")
richtet den Scheinwerfer auf den Kapitän: "Aus dem Zwerg Österreich, der Nummer 92 (!) der Weltrangliste, ist nach zwei Turnierauftritten ohne Sieg und nur einem Tor durch einen unberechtigten Elfmeter ein Alpenriese von der Größe des Großglockner geworden, während die ‚Piefkes', immerhin dreimal Weltmeister, zu einem Pimpfen geschrumpft scheinen. Gerade Ballack ist gefordert, dass dieser Spuk schleunigst ein Ende hat. Ein Vorrunden-Aus wäre fürs zuletzt blendende Image des erfahrenen Nationalspielers nicht unbedingt förderlich. Immer wieder musste sich Ballack im Verlauf seiner Karriere von seinen Kritikern den Vorwurf gefallen lassen, in entscheidenden Situationen den Erwartungen nicht gewachsen zu sein."
Roland Zorn ("Frankfurter Allgemeine Zeitung")
dekliniert die Ausgangslage für beide Mannschaften: "Qualitativ sind die Deutschen den Österreichern in allen Mannschaftsteilen voraus, doch was heißt das schon in dieser Situation? Österreich gibt sich locker vor der Begegnung mit dem großen Bruder, der sich auf einen heißblütigen Empfang im Ernst-Happel-Stadion gefasst machen muss. Die Deutschen erlauben sich mit grimmig entschlossenen Mienen nicht den leisesten Zweifel daran, dass sie sowieso die Besseren seien. Das Psycho-Vorspiel mit Retro-Elementen ist schrill, laut und ideal geeignet, diesen Krimi unter Nachbarn atmosphärisch aufzuladen. Das Publikum zum Bersten gespannt, die Hauptdarsteller bis zum Äußersten gefordert: Mögen sie ihr Spiel machen, über welches die Fußballgeschichte danach urteilen wird. ‚Wunder von Wien', das klingt wie Johann-Strauß-Musik in den Ohren der Österreicher; Favoritensieg, das klingt nur nach Normalität, wäre den Deutschen aber ganz recht auf dem Weg zu den eigentlichen Euro-Gipfeln, die vom Viertelfinale an auf sie warten."
Wolfgang Hettfleisch ("Frankfurter Rundschau")
erinnert an ein weiteres Kapitel deutsch-österreichischer Fußballgeschichte: "Diese 1978 wiederentdeckte Gewissheit der Österreicher wurde lange von der ‚Schmach von Gijon' überschattet - jenem fatalen Nichtangriffpakt zwischen den Auswahlteams beider Länder bei der WM 1982 in Spanien. Da waren sie wieder, die großdeutschen Vettern, als Komplizen eines üblen Wettbewerbsbetrugs zu Lasten der formidabel spielenden Algerier. Die alten Schicksals- und Bundesgenossen. Die Waffen- und Gesinnungsbrüder. Aber auch das Skandalspiel von Gijon ist mehr als ein Vierteljahrhundert her. Und zumindest das politische Österreich ist ja berühmt für sein selektives Erinnerungsvermögen. Die Fans der Gastgeber-Elf werden also frohgemut ‚Córdoba, Córdoba' rufen. Sie werden hoffen, dass die Piefkes stolpern, und feixen, falls es so kommt. Auch wenn mancher Deutsche es vielleicht nicht gern hört: Das klingt nach einem durch und durch gesunden nachbarschaftlichen Verhältnis."
2. Teil der Presseschau
Die Zeit des Europameisters ist überschritten. Die Türkei hat ein großes Kämpferherz gezeigt. Griechenland zeigte klar, dass es nicht mehr mithalten kann, während Spanien durch Stil glänzt und Holland einfach nur hinreißend spielt.
Felix Meininghaus ("tageszeitung")
schätzt den Kampfgeist der Türken, 3:2-Sieger gegen Tschechien: "75 Minuten war ihnen kaum etwas gelungen, dann schafften sie eine Wende, von der die Fans in der Heimat noch in vielen Jahren schwärmen werden. Vergleichbares ist selten zu finden. Die Bayern erinnern sich mit großer Pein an das historische Champions-League-Endspiel 1999 in Barcelona, als ihnen Manchester United mit zwei Treffern in der Nachspielzeit den Pokal entriss. Die Tschechen feierten vor vier Jahren bei der EM in Portugal eine unglaubliche Auferstehung, als sie gegen Holland in einem atemberaubenden Vorrundenspiel ein 0:2 in ein 3:2 verwandelten. Nun mussten sie schmerzvoll erfahren, dass es auch umgekehrt laufen kann. Hernach rangen sie alle nach Fassung."
Christian Kamp ("Frankfurter Allgemeine Zeitung")
gönnt der Schweiz den 2:0-Sieg über Portugal: "Es war am Ende doch noch ein versöhnlicher Abschluss für die Schweiz. Es war zwar kein rauschendes Fußballfest zum Ende dieses für den Mitgastgeber so gedämpft verlaufenen Turniers; dazu saß der Schmerz nach dem frühen Ausscheiden zu tief. Aber immerhin behielt das Team noch den Lohn des ersten Sieges der Schweiz bei einer EM-Endrunde überhaupt zu Hause und bescherte obendrein ihrem scheidenden Trainer noch einmal einen schönen Moment. (…) Ottmar Hitzfeld wird eine intakte Mannschaft mit einer Reihe junger und sehr veranlagter Spieler - allen voran Inler, Behrami und Derdiyok - vorfinden"
Roland Zorn ("Frankfurter Allgemeine Zeitung")
hält Griechenlands Ausscheiden für zwangsläufig: "Wer je die verwegene Hoffnung von Griechenlands Titelverteidigung gehegt hatte, weiß es seit Samstag unwiderruflich: Es war nur eine schöne Illusion. Die jüngeren, schnelleren, kombinationsstärkeren, athletischeren Russen schickten die in die Jahre gekommene Mannschaft des deutschen Traineraltmeisters Otto Rehhagel in den vorläufigen Euro-Ruhestand. Einmal noch muss das bei diesem Tempoturnier besonders betulich und altmodisch anmutende Team ran, im bedeutungslosen Duell mit Spanien, dann dürfen die Kicker aus Hellas endlich Urlaub machen. Dass sie dafür reif sind, haben sie schon bei ihren EM-Arbeitsproben bewiesen. Russland dagegen besitzt noch beste Aussichten, sich für das Viertelfinale zu qualifizieren."
Frank Hellmann (Spiegel Online)
stimmt ein: "Muss man eine so erbärmliche Figur abgeben wie Torhüter Antonis Nikopolidis? Der behäbige Ballfänger, bei der EM 2004 noch einer der gefeierten Helden, ist einer von vielen, die ihren Zenit unter Rehhagels Regie überschritten haben. Europameister, die nicht mehr mithalten können im Hochgeschwindigkeitsfußball gegen ein erfreulich engagiertes Ensemble mit Guus Hiddinks Handschrift."
Ronald Reng ("tageszeitung")
durchleuchtet Spaniens Stil, 2:1-Sieger gegen Schweden: "Es war eine Partie, die in Erinnerung bleibt, weil sie auf das Genaueste den Stil beider Teams offen legte. Es war ein Grundsatzstreit. Zwei Schulen eliminierten sich gegenseitig. Im Ball wohnt ein Olé!, wenn ihn die Spanier passen und passen. Sie sind so gewieft, dass sie 20 Mal hin und her passen und der Gegner den Ball einfach nicht bekommt. Doch das Entscheidende ist, dass dann der 21. Pass plötzlich und steil den Stillstand zerreißt. Diesen Pass suchten sie in Innsbruck vergeblich. Schweden, die moderne Schule des soliden, drögen Allwetterfußballs, stand tief, ein Muster taktischer Ordnung, eine Wucht in den Zweikämpfen. Spätestens nach dem 1:1 war es ein physikalisches Experiment: Wer wirft wen aus dem Gleichgewicht. Spanien hatte immer den Ball und schien trotzdem schachmatt gesetzt. Nach einer Stunde wechselte Aragonés die feststeckenden Mittelfeldspieler Xavi und Andrés Iniesta aus, was bedeutete: Er entfernte die beiden Propheten seiner Schule. Als ob Deutschland Ballack und Frings austauscht. Beim Großen Luis gibt es keine Unantastbaren. Am Ende rettete sie eine einzelne Genialität. Tore wie das von David Villa in allerletzter Minute lassen glauben, dass Fußball so richtig doch nur in einzelnen, grandiosen Momenten existiert."
Ingo Durstewitz ("Frankfurter Rundschau")
wirft sich den Holländern an den Hals: "Wenn die Holländer die Kugel am Fuß haben, beginnt eine rasante, faszinierende Reise durch die Lehrbücher des Fußballs. Die Elftal fährt atemberaubend schnelle Gegenangriffe, da wird der Ball in höchstem Tempo mit Härte und Präzision nach vorne getrieben. Die Niederländer schwärmen aus wie Hornissen - und stechen gnadenlos zu. an Basten soll die Ideale verkauft haben? Er hat genau das Gegenteil getan. Der holländische Hochgeschwindigkeitsfußball ist ein fast schon epochales Meisterwerk, er erinnert im Jahr 2008 stark an das legendäre 70er-Jahre-Modell namens Totaalvoetbal: verwirrende Kombinationen, überfallartige Konter. Jetzt lebt der Zauber der Vergangenheit neu auf."
Über das Fragment Frankreich schreibt Boris Herrmann ("Berliner Zeitung"):
"Immerhin passt die dialektische Rhetorik des Trainers zu den widersprüchlichen Auftritten seiner Mannschaft. Im ersten Spiel schossen die Franzosen nur 1 Mal aufs Tor, die Abwehr stand sicher. Im zweiten Spiel gaben sie 25 Torschüsse ab, von denen 24 daneben gingen. Von einer Abwehr konnte nicht die Rede sein. Nach der Partie gegen Rumänien klagten sie darüber, der Gegner habe zu wenig mitgespielt. Gegen Holland merkten sie, dass es nicht hilft, wenn der Gegner zu viel mitspielt. Raymond Domenech hat es offenbar nicht geschafft, aus zweifellos herausragenden Einzelspielern ein funktionierendes Kollektiv zu formen. Zwanzig Minuten lang mussten sich die Holländer ernsthaft um ihre Punkte sorgen. Es waren keineswegs die zwanzig Minuten von Frankreich, sondern die von Franck Ribéry."