Rolf Mützenich liegt so einiges auf dem roten Herzen, als er unter der Reichstagskuppel das Wort ergreift – und zum Rundumschlag ansetzt. Gegen die Union, der er "eigennützige und niedere" politische Motive vorwirft, aber auch gegen die Koalitionspartner von Grünen und FDP, denen so "manches Maß" verloren gegangen sei.
Donnerstagmorgen im Bundestag, es wird wieder über Waffen für die Ukraine diskutiert. Wieder über das leidige "T"-Wort. Und wieder über einen Kanzler, der angeblich vor dem Kriegstreiber aus dem Kreml kuscht. Dem SPD-Fraktionsvorsitzenden greift das zu kurz, er moniert eine "kleinteilige Debatte". Er hat die Faxen dicke, die Fixierung auf die Lieferung einzelner Waffensysteme. Anders lässt sich Mützenichs Vorschlag jedenfalls kaum deuten, der auch die Koalitionspartner schockfrostet.
Das kann die Opposition durchaus als ihren Erfolg verbuchen. Zwar ist die Union wiederholt mit ihrem Versuch gescheitert, die Lieferung des "Taurus"-Marschflugkörpers an die Ukraine per Abstimmung im Bundestag zu erzwingen. Aber dafür haben CDU und CSU gewaltige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungsfraktionen zu Tage gefördert. So musste man zeitweise Sorge haben, Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen könnte ein Schwindeltrauma davontragen, weil sie derart häufig den Kopf schüttelte. Und zwar nicht wegen ärgerlicher Äußerungen aus der Opposition, sondern wegen der ein oder anderen Einlassung des SPD-Fraktionschefs Mützenich.
Der hatte eine Frage in die Debatte eingespeist, die es in sich hat. "Ist es nicht an der Zeit", fragte Mützenich am Rednerpult, "dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann? Geht es nicht auch politisch um diese Fragen?"
Jetzt schon. Der Vorsitzende der größten Regierungsfraktion regt an, auch über ein "Einfrieren" des Ukraine-Krieges zumindest nachzudenken. Was er konkret damit meint, lässt Mützenich im Bundestag offen. Doch was der Politikwissenschaftler Mützenich, der über atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik promoviert hat, damit gemeint haben könnte, verrät ein Exkurs in sein Fachgebiet.
Kopfschütteln bei der Außenministerin
Ein "eingefrorener Konflikt" ist ein Begriff aus der Politikwissenschaft. Darunter versteht die Forschung – vereinfacht gesagt – einen Krieg, in dem die Waffen zwar ruhen, manchmal schon sehr lange. Der aber jederzeit wieder "auftauen" könnte, weil es keine Lösung gibt, keine Bedingungen für einen Frieden, die beide Seiten akzeptieren. Beispiele dafür sind der Korea-Konflikt oder auch die geteilte Insel Zypern im Mittelmeer.
Und der Ukraine-Krieg war es schon mal, so sieht es Außenministerin Baerbock. Am Freitag verwies ihr Sprecher während der Regierungspressekonferenz auf einen Gastbeitrag, den Baerbock im Dezember für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" verfasst hatte. Darin widersprach sie dem Glauben, ein "Einfrieren" des Kriegs würde einen winterlichen Frieden bedeuten. "Hinter der Front, in den besetzten Teilen der Ukraine, wo Menschen gefoltert, wo Kinder verschleppt werden, da gibt es keinen kalten Status Quo, den man künstlich konservieren könnte", schrieb Baerbock. "Da gibt es nur die heiße Gewaltherrschaft Russlands." Schließlich habe Russland seinen Krieg schon 2014 im Osten der Ukraine begonnen. Dieser sei dann durch den Minsk-Prozess gewissermaßen eingefroren worden. Bis er im Februar 2022 wieder heiß wurde.
In anderen Worten: Baerbock hat für das "Einfrieren" des Ukraine-Kriegs nur Kopfschütteln übrig.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Damit ist die Grüne in der Ampel-Koalition nicht allein. "Ich bin entsetzt, dass Rolf Mützenich ernsthaft vorschlägt, den Ukraine-Krieg einzufrieren", sagte FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann dem stern. "Eingefrorener Mist bleibt auch nach dem Auftauen Mist." Sollte Mützenich, der in seiner Funktion ja für die gesamte SPD-Fraktion spreche, ernsthaft ein Einfrieren des Ukraine-Kriegs fordern, dann "rückt die Kanzlerpartei SPD offenkundig von der vereinbarten Zeitenwende ab". Das sei inakzeptabel und müsse "schnellstens" in der Koalition geklärt werden.
Teilt die SPD-Fraktion denn die Meinung ihres Vorsitzenden? Oder ist Mützenich im Eifer des Wortgefechts mit seiner Überlegung vorgeprescht?
Fragt man den Parteilinken Ralf Stegner, der sich ebenfalls für mehr diplomatische Initiativen im Krieg einsetzt, werden die Aussagen des Fraktionsvorsitzenden hochgejazzt. Ein "Einfrieren" des Krieges könne auch ein schrittweiser Waffenstillstand bedeuten, über den aber die Ukraine zu entscheiden habe. "Niemand erwartet, dass sie kapituliert oder besetze Gebiete abtritt", sagte er dem stern. Weder habe die Ampel das im Bundestag so beschlossen, noch Mützenich so gefordert.
Dabei wirkt Mützenichs Vorschlag durchaus widersprüchlich zu einem Antrag, den die Ampel-Fraktionen erst im Februar beschlossen hatten. Darin forderten sie die Regierung zur Lieferung "von zusätzlich erforderlichen weitreichenden Waffensystemen und Munition" an die Ukraine auf und das Land "umfassend zu befähigen, die besetzten Gebiete einschließlich der Krim zu befreien und ihre völkerrechtlich anerkannten Grenzen wiederherzustellen". Außerdem müssten Präsident Putin und sein Regime "diesen Krieg verlieren". Ein Forderungskatalog, der deutlicher kaum sein könnte.
Und trotzdem vielen in der Union und Teilen der Ampel, insbesondere bei Grünen und FDP, nicht deutlich genug war. Denn die Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern wird nicht explizit genannt. Dafür hat auch Mützenich gesorgt, um den Kanzler vor einem Autoritätsverlust zu bewahren und seinen Handlungsspielraum nicht einzuschränken (mehr dazu lesen Sie hier). Mit der Folge, dass die dauererregte Debatte über das Waffensystem einfach nicht abreißen will.
Das geht auch SPD-Mann Stegner auf die Nerven. Er kritisierte die Versuche der Union, aber auch von FDP und Grünen, "die Debatte auf Waffen zu verengen". "Wer Tote und Leid verhindern will, muss auch öffentlich darüber reden können", sagte er dem stern. Nichts anderes habe der Fraktionschef getan. "Rolf Mützenich hat nicht nur die Mehrheit der SPD-Fraktion hinter sich", meint Stegner, "sondern auch der Bevölkerung".
Kürzer angebunden äußert sich Dirk Wiese, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Sprecher des Seeheimer Kreises, der konservativen Strömung in der Fraktion. "Ich glaube, dass man grundsätzlich keine Denkverbote haben sollte", sagte Wiese dem stern. Aber für die SPD-Fraktion sei klar, dass alles nur in engem Austausch mit den ukrainischen Partnern besprochen werde.
Rolf Mützenich will etwas klarstellen
Die Rückendeckung ist wenig überraschend. Auffällig ist hingegen, wer sich nicht zu Mützenichs Rede geäußert hat. Die SPD-Parteispitze, zum Beispiel. Oder die Fraktionschefs der Ampel-Partner.
Die Grünen-Co-Vorsitzende Britta Haßelmann ging auf Nachfrage nicht direkt auf die Äußerungen ein. Sie sagte dem stern lediglich, dass ein "selbstbestimmter Frieden" in der Ukraine das Ziel aller Bestrebungen sein müsse. Deshalb hätten die Regierungsfraktionen ihre "uneingeschränkte Solidarität" mit der Ukraine und ihrem Freiheitskampf bekräftigt. "Sie muss diesen Verteidigungskampf gewinnen. Dazu stehen wir, das haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht."
Will man das kontroverse Thema nicht weiter aufbauschen? Im SPD-Fraktions-Newsletter zur besagten Bundestagsdebatte findet Mützenichs Vorschlag, über ein "Einfrieren" des Kriegs nachzudenken, jedenfalls keinerlei Erwähnung. Dafür aber sein markanter Satz: "Zeitenwenden sind nichts für politische Spielernaturen." Hat Mützenich selbst sich verzockt?
Er ist Polit-Profi, dürfte seinen Vorschlag nicht versehentlich gemacht haben – zumal ihm noch immer der Ruf anhaftet, ein unverbesserlicher Entspannungspolitiker zu sein. Der Aufschrei war durchaus erwartbar. Nun sah sich Mützenich wohl zu einer Art Klarstellung veranlasst.
"Wie so oft werden Satzstücke gezielt umgedeutet und skandalisiert", sagte er am Freitag der "Rheinischen Post". In seiner Rede habe er sich klar für die Unterstützung der Ukraine, auch mit Waffen und Munition, ausgesprochen und wie viele andere angeregt, auch über die "Bedingungen für ein mögliches Kriegsende nachzudenken". Mützenich rede damit "keinesfalls" einer Preisgabe der besetzten Gebiete in der Ukraine das Wort. "Alle können das in meiner Rede nachlesen", sagte er und betonte, dass über einen Waffenstillstand und ein Einfrieren der Kämpfe nur die ukrainische Regierung entscheiden könne. "Dies enthebt uns nicht von der Verantwortung, auch über Wege und Perspektiven für die Zeit nach dem Ende des Krieges nachzudenken."
Bleibt abschließend noch eine Frage: Was sagt der Kanzler dazu?
Bei der Regierungspressekonferenz am Freitag wurde Regierungssprecher Steffen Hebestreit auf die Aussage des Fraktionschefs angesprochen, danach gefragt, ob die Überlegung vom "Einfrieren" ein Teil der Regierungspolitik sei – immerhin sitze Mützenich der größten Regierungsfraktion vor. "Im Augenblick ist es so", sagte Hebestreit, "dass es keinerlei Regierungshandeln meines Wissens entspricht." Man unterstütze die Ukraine, auch bei der Umsetzung ihres Zehn-Punkte-Friedensplans.
Ein "Einfrieren" des Konflikts ist in der sogenannten Friedensformel von Präsident Wolodymr Selenskyj nicht vorgesehen.