EM 2012 Die Bilanz der EM-Vorrunde - Jogi Löw findet die Balance, die Fans auch?

Vor der EM war die Abwehr das Sorgenkind, jetzt die Offensive? Jogi Löw veränderte die Balance und die DFB-Elf ist das erfolgreichste Team der Vorrunde. In unserem großen Bilanzrundumschlag geht es aber auch um die größte Enttäuschung der EM, Taktiktrends und den neuen Geheimfavoriten.

In unserem großen Bilanzrundumschlag zur EM-Vorrunde kümmern wir uns um die Balance im deutschen Spiel, die Enttäuschung und die Überraschung der EM 2012. Wir machen Taktiktrends aus und küren das beste Spiel des Turniers so weit. Die Aussichten auf das Viertelfinale dürfen natürlich nicht fehlen. Hauptsache, der Torrichter bleibt arbeitslos.

Die Vorrunde der deutschen Elf

Die deutschen Medien spiegelten zuletzt die Gefühlswelt vieler Fans wieder. Da war von einem glanzlosen Sieg in der Generalprobe zur EM gegen Israel die Rede, gegen Portugal war der deutsche Sieg glücklich und gegen die Niederlande und Dänemark zitterte man sich zum Erfolg. Haben das alle Fans so gesehen? Man sollte vielleicht auf den Unterschied zwischen veröffentlichter Meinung und öffentlicher Meinung hinweisen, denn nicht wenige Fußballfans und Experten schätzen die bisherigen Leistungen der DFB-Elf bei der EM 2012 als äußerst gelungen ein.

Wir versuchen in unserer Bilanz über die Vorrunde der EM, eine Brücke zwischen den verschiedenen Perzeptionen der Fußballfans zu schlagen. Perzep...was? Folgt man Wikipedia, dann versteht man unter Perzeption "die Vorgänge des Auffassens, Erkennens und Beurteilens, also die gedankliche Verarbeitung des Wahrgenommenen“, dazu gehören auch "unbewusste und emotionale Vorgänge des Empfindens“. Versuchen wir uns zunächst in der empathischen Ergründung, warum so viele Fans unzufrieden mit dem Auftreten der DFB-Elf sind.

Die Erwartungshaltung vor dem Turnier war groß. Zum einen gaben die Ergebnisse der jüngeren Vergangenheit Anlass zur Hoffnung (EM 2008, Platz 2./WM 2010, Platz 3.), zum anderen spielte die deutsche Nationalelf auch technisch anspruchsvoller als je zuvor und zeigte attraktiven Fußball. In der Vorbereitung auf die EM 2012 lieferte man eine eindrucksvolle Qualifikation ab und erreichte in 10 Spielen 10 Siege. Die mitreißenden Erfolge in Freundschaftsspielen gegen Brasilien (3:2) und Holland (3:0) sorgten zudem für einen enormen Hype um die deutsche Elf.

Das bedingungslose Vertikal- und Offensivspiel "kann man in einem Freundschaftsspiel gegen Brasilien mal machen“, doch nach dem Freundschaftsspiel gegen die Schweiz, bei dem man fünf Gegentore hinnehmen musste, wollte der Bundestrainer die "Balance“ zwischen Angriff und Abwehr wiederfinden. Man wollte "nicht nur vertikale Bälle spielen“ und daraus "ergeben sich zwangsläufig mehr Ballbesitzzeiten“, so der Bundestrainer nach dem Dänemarkspiel auf der offiziellen Pressekonferenz des DFB.

Die Einschätzungen des Bundestrainers decken sich mit unserer Wahrnehmung der Vorrundenspiele der deutschen Mannschaft. Die DFB-Elf suchte eine Balance zwischen dem schnellen und direkten Spiel in die Spitze und Phasen, in denen der Ball in den eigenen Reihen gehalten wurde. "Langweilig“, kommentierten einige Fans und Experten. Das Spektakel wurde vermisst, die Schuld am ausbleibenden Offensiv-Feuerwerk wurde schell personifiziert: Lukas Podolski, Thomas Müller und Mesut Özil sind die Pappnasen. Ein Schluss, der naheliegend ist, aber zu kurz greift.

Kaum jemand würde den Stab über die bisherige Defensivleistung des deutschen Teams brechen, Mats Hummels gilt gar als der neue Messias der deutschen Hintermannschaft, ähnlich wie Arne Friedrich bei der WM 2010. Ein phönixgleicher Aufstieg, denn man hatte diese Leistung nicht erwartet. Die Abwehr galt auch vor diesem Turnier als das Sorgenkind. Doch Löw sorgte für mehr Balance zwischen Angriff und Abwehr. Die Ergebnisse für die Defensive werden nun beklatscht, die Konsequenzen für die Offensive naserümpfend kritisiert.

Die beiden offensiven Außenspieler Müller und Podolski arbeiten sehr gewissenhaft nach hinten. Auch ein Grund, warum Deutschland bisher kein Tor über die Außenpositionen kassiert hat. Ein Gegentor resultierte aus einem Eckball (Dänemark), eines aus einem Angriff durch die Mitte, bei dem Mats Hummels van Persie entwischen ließ und Holger Badstuber nicht konsequent entgegen ging. Deutschland ließ gegen die extrem starken Außen der Niederlande so gut wie nichts zu.

Auch Mesut Özil steht in der Kritik. Der Bundestrainer ist jedoch größtenteils sehr zufrieden mit seinem Mittelfeldspieler: "Özil hat sich stark verbessert, er hat wahnsinnig viele Wege gemacht, war viel am Ball“. In diesem Zusammenhang erklärte der Bundestrainer beiläufig, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. "Nicht der Pass bestimmt, sondern der Laufweg, wo der Pass dann hingespielt werden kann“, so Löw.

Der Gegner erkennt in Özil oft den Schlüsselspieler und nimmt ihn deshalb in vielen Phasen in Einzelhaft. Miguel Veloso machte das auf Seiten der Portugiesen gut, William Kvist erhielt Lob aus unsere Live-Redaktion: Kvist "fand die richtige Balance zwischen enger Manndeckung gegen Özil und klugem Zustellen von Passwegen.“ Was tut man, wenn man selbst nicht glänzen kann? Man setzt die anderen Spieler in Szene. Özil "ging lange Wege, tauchte mal auf der linken, mal auf der rechten Seite auf“, heißt es in der Einzelkritik zum Portugalspiel.

Das sieht dann so aus: Özil zieht einen defensiven Mittelfeldspieler des Gegners auf die Außen, in der Mitte bekommen dadurch Sami Khedira (wie gegen Dänemark in vielen Szenen zu sehen) oder Bastian Schweinsteiger viel Raum. Schweinsteiger nutzte diesen Raum gegen die Niederlande zu zwei Torvorlagen. Der Bundestrainer hatte aber nicht nur lobende Worte für seine Offensivabteilung übrig.

In der zweiten Hälfte gegen Dänemark habe man die Räume nicht mehr so eng gemacht. Die Konsequenz war, dass Bastian Schweinsteiger nach dem Spiel fast ein Sauerstoffzelt gebraucht hätte. Auch Sami Khedira musste viele Räume zulaufen. "Die beiden Mittelfeldspieler mussten wahnsinnig viel Arbeit verrichten. Schweinsteiger war enorm gefordert gegen den Ball, dort war er enorm präsent“, lobte der Bundestrainer.

Wie kann man nun das Lager der Idealisten und der Realos wieder vereinen? "Die große Explosion Özils kommt noch, ich spüre das", versprach Joachim Löw und heizte den Spektakelwunsch der Anhänger an. Der nächste Gegner heißt aber Griechenland und der gemeine Grieche ist bekanntlich ein emsig verteidigender Fußballgeselle. Es droht, ein handballartiges Spiel um den Strafraum des Gegners, kurz ein Geduldsspiel.

Wo wenig Platz ist, da ist es schwer zu glänzen. Die Zeiten, in denen die deutsche Mannschaft einen Gegner durch schnelles vertikales Spiel auseinandernimmt – wie bei der WM 2010 gegen England und Argentinien gezeigt – lassen noch auf sich warten. Das liegt aber nicht allein am deutschen Angriffsspiel sondern auch an der defensiven Ausrichtung und taktischen Disziplinen der anderen Nationen. Erst wenn der Gegner zum Mitspielen bereit ist, ergeben sich die für Offensiv-Wirbel nötigen Räume. Die Griechen werden Özil und Co. diesen Gefallen nicht tun. Es heißt also wohl weiterhin; Deutschland liefert kein großes Spektakel, aber dafür einen eindrucksvollen technisch und taktisch modernen Fußball.

Die Enttäuschung der EM - bisher

Die Zahlen sprechen in diesem Punkt für die sympathischen Iren. Das Team von Giovanni Trapattoni holte keinen Punkt, schoss nur ein Tor und kassierte deren neun. Aber natürlich war die Erwartungshaltung an die Iren gering. Ganz anders sah das in den Niederlanden aus. Oranje galt als einer der Topfavoriten auf den Titel. Auf Spurensuche nach den Gründen für null Punkte, 2:5-Tore und dem letzten Tabellenplatz in der Gruppe dürfte erneut der Begriff der Balance helfen.

Bert van Marwijk schaffte es nicht, eine Balance zwischen Angriff und Abwehr herzustellen. Eine überforderte Defensive und eine abgetrennte Offensive arbeiteten unzureichend zusammen. Auch die soziale Balance im Team scheint nicht gestimmt zu haben. "Es ist schwer, füreinander zu kämpfen, wenn das Vertrauen weg ist“, sagte Spielmacher Wesley Sneijder nach dem Ausscheiden. Am Pranger steht ausgerechnet Bundesligastar Klaas-Jan Huntelaar .

Der Torschützenkönig vom FC Schalke 04 soll laut Äußerungen des prominenten niederländischen Fernsehmoderators Jack van Gelder mit der Dauer-Kritik an seiner Reserverolle die Stimmung verpestet und sogar kurz vor dem Rauswurf aus dem Quartier in Krakau gestanden haben. Schaut man einmal auf die Qualität der Defensive ist das Ausscheiden vielleicht weniger ein soziales als ein fußballerisches Problem. Für den jüngsten Spieler der EM-Geschichte, Jetro Willems, kam das Turnier zu früh (Noten: 3,5/5/5). Joris Mathijsen hat seine beste Zeit schon hinter sich. Für Mark van Bommel kann man sicherlich zu einem ähnlichen Urteil kommen.

Die Überraschung der EM-Vorrunde

Portugal ist die Überraschungsmannschaft des Turniers. Dabei machten viele den Fehler, die Portugiesen auf Cristiano Ronaldo zu reduzieren – eine beschränkte Sicht. Das Team von Trainer Paulo Bento lieferte gegen Deutschland eine beeindruckende Defensivleistung ab. Taktisch überraschte Bento den Kollegen Löw und die deutsche Elf. Als dann auch Ronaldo ins Turnier gefunden hatte, schoss dieser mit einer Glanzleistung die zugegebenermaßen extrem offen ausgerichteten Niederlande endgültig aus dem Turnier. Natürlich sind auch die Griechen und Tschechen eine große Überraschung, allerdings trauen wir nur den Portugiesen den ganz großen Wurf zu. Fazit: Portugal ist nun Geheimfavorit, auch ohne Ronaldo, aber erst recht mit ihm.

Taktiktrends der EM

Ist die Offensive Trumpf, oder beherrscht der Defensivfußball die EM? Einen eindeutigen Trend sollte man nicht ausweisen, bevor der Erfolg seine Handschrift auf dem Taktikboard hinterlassen hat. Es fällt allerdings auf, dass von 24 Vorrundenspielen der EM nur zehn von der Mannschaft mit mehr Ballbesitz gewonnen wurden, dagegen immerhin neun von der Mannschaft mit weniger Ballbesitz (fünf Remis). Beachtliche siebenmal hat die Mannschaft mit weniger Torschüssen gewonnen, zwölfmal die mit mehr Torschüssen.

Nimmt man aus dieser Bilanz die Spiele der sympathischen Iren raus, da die Boys in Green auf diesem Niveau wenig zu suchen hatten, dann steht es in puncto Ballbesitz sogar 9:7 für die Teams, die mit weniger Ballbesitz gewonnen haben und nur noch 7:9 für die Teams mit weniger Torschüssen. Die Tage, in denen Dominanz auch gleichzeitig Erfolg bedeutet hat, scheinen vorbei zu sein. Das neue Credo heißt: "Chancenqualität" (Spielverlagerung.de)

Schon die Champions League-Erfolge von Chelsea gegen Bayern und Barcelona deutete daraufhin. Auch das letzte Spiel der Vorrunde wies in diese Richtung. Die Ukraine hatte ein großes optisches Übergewicht, außer dem nicht gegebenen Tor und dem Milevskiy-Kopfball (beiden Chancen ging eine Abseitsposition im Aufbau voraus) sah man allerdings keine klare Torchance für die Ukraine. Es kommt also nicht auf die Anzahl der Chancen, sondern auf die Qualität der Möglichkeiten an, wie die Statistik über die meisten Schüsse in der Vorrunde zeigt: Die Niederlande verzeichneten 48 Schüsse, Russland 40, Polen 38, Schweden 36, Ukraine 33. Deutschland dagegen nur 27, England 23 - am Ende mit den wenigsten Schüssen, Griechenland: 17.

Die Tendenz zu den reaktiveren Mannschaften mit weniger Ballbesitz soll kein Plädoyer für einen EM-Sieg der Griechen sein. Entscheidend ist wohl die kompakte Organisation bei hoher taktischer und (nicht höchster, aber hoher) individueller Qualität. Schließlich hat ja nicht APOEL die Champions League gewonnen, sondern Chelsea. Und nicht Hannover ist Deutscher Meister geworden, sondern Dortmund. Es kommt also auf das Gesamtpaket an, aber bei zwei gleich starken Mannschaften hat tendenziell die reaktivere Vorteile. Diese Sicht der Dinge kann durch einen Turniersieg Spaniens in Schutt und Asche gelegt werden. Der Fußball der Furia Roja ist nämlich noch immer von Dominanz und Ballbesitz geprägt. 

Das beste Spiel der EM-Vorrunde

Dank der Umstellung Cesare Prandellis auf ein 3-5-2 und der Beförderung des etatmäßigen Mittelfeldspielers Daniele de Rossi zum Abwehrchef kam die Squadra Azzurra in einem bemerkenswerten und teilweise hochklassigen Spiel gegen Welt- und Europameister Spanien zum Auftakt der EM-Gruppe C zu einem verdienten 1:1. „Italien spielt einen offensiveren Fußball als noch bei der WM 2010. Es hat eine Verjüngung der Mannschaft stattgefunden“, kommentierte Jogi Löw anerkennend.

Sein Trainerkollege hat keine zwei Sperrketten (Catenaccio) aufgeboten, sondern das in jüngster Zeit schon in der Serie A aufgekommene Phänomen der Dreierkette hervorgebracht. Neben Daniele de Rossi, Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci als Bestandteile der Kette, konnten vor allem die Außenbahnspieler Christian Maggio und Emanuele Giaccherini überzeugen, die sich flexibel zwischen Mittelfeld und Abwehr bewegten. Mit häufigen Wechseln zwischen Pressing, Gegenpressing und Rückzug erschwerte Italien den Spaniern den Spielaufbau im Mittelfeld und kam zu guten Chancen. Die Italiener nahmen ein verdientes Remis als Auftaktergebnis mit. Das Spiel weckte Appetit auf ähnlich hochkarätige Begegnungen während der nun folgenden KO-Phase.

Gute Aussichten?

Diese findet allerdings ohne Gastgeber statt. Für die EM-Stimmung abträglich ist das Ausscheiden der Polen und der Ukraine sicherlich. Am Ende muss man sich aber vor allem in Polen eingestehen: Wer in einer Gruppe mit Tschechien, Griechenland und Russland nicht weiterkommt, der hat es letztlich auch nicht verdient. Von gelegentlichen Druckphasen abgesehen konnte das polnische Team einfach qualitativ nicht überzeugen.

Die Ukraine riskierte gegen Frankreich zu viel und hatte gegen England viel Pech. Hätte das nichtgegebene Tor gezählt, wäre vielleicht eine zusätzliche Dynamik entstanden und ein weiterer Treffer wäre nicht unvorstellbar gewesen. Im Konjunktiv ist allerdings noch jeder Europameister geworden. Schade ist es trotzdem und ein zusätzliches Argument gegen die Torrichter sowie für den Chip im Ball. Wir hoffen, dass kein weiteres Argument dazukommt und wünschen viel Spaß mit den Viertelfinalspielen.

Michel Massing 

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