Fußball-WM der Frauen Sie soll es besser machen als die Männer: Das ist Martina Voss-Tecklenburg

  • von Frank Hellmann, Wyong
Trainerin des deutschen Teams bei der Frauen WM: Martina Voss-Tecklenburg
Will bei der WM der Frauen in Australien und Neuseeland ihren ersten Titel als Trainerin mit Deutschland holen: Martina Voss-Tecklenburg
© Christoph Gollnow / DPA
Martina Voss-Tecklenburg fühlt sich in ihrer Rolle als Bundestrainerin pudelwohl. Dennoch lasten auf ihr viel mehr Erwartungen als bei vorangegangenen Weltmeisterschaften. Das abgelegene Quartier ist ein Wagnis.

Vermutlich ist kein Kleingarten daheim an ihrem Wohnort Straelen so gut geschützt wie dieser Trainingsplatz. Draußen schwarze Sichtschutzblenden und aufmerksame Wachleute, innen noch mal ein weißer Zaun, der auch irgendwo im australischen Outback um eine Pferdekoppel stehen könnte: Das ist das Areal, in dem sich Martina Voss-Tecklenburg dieser Tage mit einer Trillerpfeife bewegt. Das für die deutsche Frauen-Nationalmannschaft bei der WM in Australien und Neuseeland reservierte Gelände hinter dem Tuggerah Lake an der Central Coast ist so abgelegen, dass der Weltverband Fifa nicht mal Werbeplakate aufgestellt hat. Deswegen sieht es auf dem Komplex ein bisschen wie auf einem verlorenen Dorfsportplatz aus.

Nur dort, wo die Bundestrainerin mit ihrem großen Helferteam und den 24 Spielerinnen übt, ist das Gras wirklich grün. Die restlichen Flächen sind eher ungepflegt. Aber sie und ihre Co-Trainerin Britta Carlson waren ja zweimal da, um alles aus nächster Nähe zu begutachten. Letztlich entschied man sich für den kleinen Ort Wyong ziemlich "weit ab vom Schuss", wie die Mittelfeldspielerin Lina Magull anmerkte. Abwechslung in den Wintermonaten? Fehlanzeige. Mit dem Zug ist es fast zwei Stunden ins Zentrum von Sydney, mit dem Auto anderthalb.

Deswegen ist die Delegation eine Woche vor dem Auftaktspiel gegen Marokko (Montag 10.30 Uhr MESZ/ZDF) zum Whalewatching ausgerückt und bekam in der Bucht von Sydney ein "Once-in-a-Lifetime"-Erlebnis, wie die Abwehrspielerin Sophia Kleinherne erzählte, weil Wale tatsächlich vor ihren Augen aus dem Wasser sprangen. Zuletzt fuhren einige im Bus zum Wyee Point, einem Wohngebiet, in dem bei Abenddämmerung die Kängurus herumspringen. Die Bundestrainerin weiß, dass dieses vornehmlich für ältere Golfer gebaute Quartier ein schmaler Grat ist. Ihr Argument: "Wir haben ja vorher die Spielerinnen gefragt. Als erste Antwort, was ihnen wichtig ist kommt immer: ein kurzer Weg zum Trainingsplatz. Das ist die absolute Priorität!"

Nur: Wenn die Mission zum dritten Stern früh scheitert, werden viele sagen, dass die Frauen in Australien denselben Fehler wie die Männer in Katar gemacht haben, sich so weit ab vom richtigen Leben einzuquartieren. Die WM auf dem fünften Kontinent stellt logistisch und klimatisch hohe Anforderungen an alle 32 Team. Deutschland greift gegen die Nordafrikanerinnen erst ins Turnier ein, wenn alle Favoriten schon gespielt haben. Aber wie sehr der zweifache Weltmeister wertgeschätzt wird, zeigt das fast ausverkaufte Stadion in Melbourne.

WM-Titel Nummer drei für Deutschland ambitioniertes Ziel

Voss-Tecklenburg weiß, dass der dritte WM-Titel nach 2003 und 2007 angesichts der wachsenden Konkurrenz ein sehr ambitioniertes Ziel ist. Die Partien sind deutlich körperbetonter geworden. Hinzu kommt der tückische Spielplan. Ein Achtelfinale gegen Brasilien oder Frankreich kann leicht verloren werden, ohne ganz viel falsch zu machen. Erst einmal warten in der Vorrunde noch Kolumbien (30. Juli) und Südkorea (3. August) – beide Gegner werden höher eingestuft als Marokko. Eigentlich wäre der Gruppensieg ja Pflicht, doch haben die Testspiele gegen Vietnam (2:1) und Sambia (2:3) gezeigt, dass vieles in diesem Länderspieljahr noch nicht rund läuft. Die hohe Erwartungshaltung bekämpft die Trainerin nur ganz leise. Schließlich ist sie selbst extrem ehrgeizig – und doch "entspannter als früher", wie Co-Trainerin Carlson verrät, die fast immer an Seite der Bundestrainerin ist. Die beiden sind befreundet, sprechen alles ab, wobei die Chefin diejenige ist, die mit einem herüber geschossenen Ball die Betreuercrew erschreckt. Spaß muss in diesem Job auch mal sein.  

Nachdem das Experiment mit Steffi Jones krachend gescheitert war und Horst Hrubesch eine Übergangsphase gesteuert hatte, holte der Deutsche Fußball-Bund im Herbst 2018 seine mittlerweile bis 2025 gebundene Bundestrainerin. Sie hat noch keine Erfolgsbilanz wie Gero Bisanz (drei Titel), Tina Theune oder Silvia Neid (je vier Titel) vorzuweisen, trotzdem gilt sie längst als die perfekte Lösung für en krisengeplagten Verband. Sie hat großen Anteil daran, dass die DFB-Frauen durch ihre authentischen Auftritte als Vize-Europameisterinnen als Aushängeschild mit positiver Strahlkraft gelten. Sie vermittelt Fachkompetenz und Führungsstärke. Und eine bessere Moderatorin selbst für die gesellschaftlichen Statements kann sich keiner vorstellen.  

Voss-Teclenburg fordert selbst kein Equal Pay

Die 55-Jährige lässt sich auch nicht vor jeden Karren spannen: Equal Pay bei den Prämien kann Bundeskanzler Olaf Scholz gerne fordern – die Bundestrainerin folgt da nicht. "Wir wissen, wo wir herkommen." Sie selbst stammt aus Duisburg, mitten im rauen Ruhrgebiet. "Meine Eltern haben Wert darauf gelegt, dass wir 'Danke' und 'Bitte' sagen. Sie haben fünf Kinder unter schwierigen Bedingungen großgezogen." Der Vater hat bei Thyssen in Wechselschicht gearbeitet, die Mutter neben der Erziehung noch in einem Kindergarten geputzt. Die Mutter wollte erst nicht, dass die Tochter Fußball spielt, die daher erstmal Handball, Leichtathletik und Tischtennis probierte. Erst mit 15 Jahren konnte sie im Verein kicken.

Sie bestritt dann 125 Länderspiele, wurde zweimal Deutschlands Fußballerin des Jahres (1996 und 2000), viermal Europameisterin (1989, 1991, 1995 und 1997) -  aber nie Weltmeisterin. Danach hat sie den Trainerjob von der Pike auf gelernt. Nach Tätigkeiten als Verbandssportlehrerin Niederrhein, bei den Bundesligisten FCR 2001 Duisburg und FF USV Jena sowie Nationaltrainerin der Schweiz war der Karriereschritt zum DFB folgerichtig. Sie will mit der deutschen Nationalelf etwas entwickeln, natürlich Titel holen – und für gewisse Werte stehen.

Ihr Privatleben ist geprägt von großen Brüchen, die eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit veranschaulichen, worüber sie in der NDR-Reihe "Sportclub Story" ganz offen gesprochen hat. Über ihre Jahre als alleinerziehende Mutter, nachdem sie ungeplant schwanger geworden war. Über den Spagat zwischen Berufsleben und Leistungssport. "Es gab Momente, wo es belastungsmäßig grenzwertig war, wo ich hilflos war. Ohne die Hilfe meiner Schwester und meiner Familie hätte ich das nicht geschafft und mich gegen Fußball entscheiden müssen." Sie flog vor den Olympischen Spielen 2000 aus der DFB-Auswahl, weil Trainerin Theune das öffentliche Zerwürfnis mit ihrer damaligen Partnerin Inka Grings vom Nationalteam fernhalten wollte.

Vor einem Monat erneuerte sie ihr Eheversprechen

Voss-Tecklenburg hat heute mit allen ihren Frieden gemacht. Mit ihrem Ex-Freund und Ex-Trainer vom KBC Duisburg, Jürgen Krust oder auch mit Grings, die bei der WM die Schweizer Nationalelf betreut. Wollte die Bundestrainerin zeigen, dass die Welt bunter ist als viele denken? "Ich bin halt ein sehr offener Mensch, der mehrheitlich zu dem steht, was er in seinem Leben tut." Trotz allen Kontroversen will sie solchen Menschen weiter respektvoll in die Augen schauen. Man habe schließlich eine Verantwortung übernommen: "Jürgen und ich für ein Kind, Inka und ich für andere Dinge und Hermann für eine Firma." Sie meint ihren Ehemann Hermann Tecklenburg: Den Bauunternehmer lernte sie kennen, als sie sich 2003 mit einem Eigentor im Pokalfinale des FCR 2001 Duisburg von der aktiven Bühne verabschiedete. Ihre Rede beim Bankett geriet so mitreißend, dass er ihr danach mit einem Kugelschreiber auf ihren Oberarm "Ich werde Dich heiraten" geschrieben hat, wie die Bundestrainerin selbst in der TV-Sendung "Inas Nacht" erzählte. Die große Liebe hält bis heute – vor einem Monat haben beide ihr Eheversprechen erneuert.

Aber jetzt zählt erst einmal dieses Turnier, ihr drittes als Trainerin. Als sie bei der WM 2015 mit der Schweiz das erste Mal diese Bühne betrat, leuchteten ihre Augen. Auf Kunstrasen in Kanada genügte trotz zweier Niederlagen ein einziger Kantersieg gegen Ecuador, um das Achtelfinalticket zu lösen. Zum Dank wartete für den Gruppendritten der Gastgeber. Riesige Kulisse in Vancouver, tolle Atmosphäre. Und ein achtbarer Abschied. Niemand war sauer. Als sie vor der WM 2019 in Frankreich erst kurz zuvor die deutsche Nationalelf übernommen hatte, riefen ihre besten Spielerinnen – Alexandra Popp, Dzsenifer Marozsan und Melanie Leupolz in einem Werbespot: "Wir spielen für eine Nation, die unsere Namen nicht kennt". Das Aus im Viertelfinale gegen Schweden war trotzdem vermeidbar. Voss-Tecklenburg hat Fehler eingeräumt – und bei der EM in England fast alles besser gemacht. Früh legte sie sich auf ein festes Gerüst und definierte Rollen fest. Ausgeklügelte Matchpläne gingen wie selbsterfüllende Prophezeiungen auf.

Letzter deutscher Titel vor sieben Jahren

Doch den letzten Titel holte Neid 2016 mit Olympia-Gold in Rio de Janeiro für die DFB-Frauen. Lange redeten Neid und die heutige Bundestrainerin nur das Nötigste, doch auch das hat sich geändert. Als Leiterin Trendscouting Frauenfußballer erstellt die 59-Jährige umfassende Analyse, die Voss-Tecklenburg nach eigenem Bekunden weiterbringen. Anders als die höchst erfolgreiche, oft aber auch wenig kompromissbereite Erfolgstrainerin arbeitet Voss-Tecklenburg mehr im Team, bindet mehr Gefolgsleute ein – und fragt immer wieder die Spielerinnen. Feedback ist ihr enorm wichtig. Sie ist niemand, der mit dem Kopf durch die Wand will. Neid betonte beim Wiedersehen der Weltmeisterinnen von 2003, dass die Bundestrainerin "Dinge gut auf den Punkt bringt, dass sie sehr kommunikativ ist, dass sie ein Spiel gut lesen kann, dass sie in der Lage ist, ein Spiel zu verändern mit einer Einwechslung."

Voss-Tecklenburg hat im Leben schon so viele Perspektiven eingenommen, dass sie Strömungen generell schnell einordnen kann: Sie hat Bürokauffrau gelernt, Diplom-Sozialarbeiterin gemacht, als Chefredakteurin des Frauenfußballmagazins FF gearbeitet. Wenn sie als Expertin im ZDF die Champions League der Männer analysiert, kommt sie fast zu nüchtern rüber, weil sie sich dann nur auf den Fußball beschränkt. Sie hat viel mehr zu sagen. Aus dem DFB-Präsidium erklangen kürzlich einige (weibliche) Stimmen, doch mal zu überlegen, ob nicht Voss-Tecklenburg die Heim-EM 2024 retten solle. Als Verantwortliche der Männer-Nationalmannschaft. Für sie ist das "überhaupt kein Thema". Eigentlich müsste sie als Frau mit so vielen Facetten nichts ausschließen, aber das wirkt jetzt gerade so weit weg wie Wyong von Straelen.

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