Bald wird er wieder gezeichnet sein. Sein Gesicht schmal, die Haut fahl, die Lippen ein Strich unterm Schnauzer. Es kommen die Wochen, in denen Rudi Völler kaum ein Auge zumacht, weil er vor Spielen nicht schlafen kann und nach Spielen erst recht nicht. Doch so wird der Turniervöller zum Leben erwachen, ein staunenswertes Geschöpf des Adrenalins, und wenn die deutsche Nationalelf demnächst gegen alle Erwartungen eine große Europameisterschaft spielen sollte, dann seinetwegen.
Mitte Mai, Leverkusen. Rudi Völler ist in Form. Er erobert mit seinen schnellen Schritten die Loge der Bay-Arena, Leverkusen, schüttelt Hände wie ein alter Freund. Er kommt früher als verabredet. Er steht unter Strom. Harte Zeiten. Gut so. Völler, der Stürmer, tut, was er als Trainer am besten kann: verteidigen. Er sagt: "Man muss sich gerade nach solchen Spielen stellen." Er meint das 1:5 in Rumänien.
Die Kabinenwände im Bukarester Stadion sollen immer noch wackeln, heißt es, so habe der Teamchef in der Pause auf seine Elf eingebrüllt. Es folgten Tage voll Häme, in denen ihm mancher Kritiker empfahl, ein Dutzend Spieler rauszuwerfen.
Rudi Völler stellt sich. Vor die Mannschaft: Ich trage die Hauptschuld, das sollen alle glauben. Seine "Jungs", wie er sie immer nennt, wurden an den Pranger geschrieben, und Völler warf sich vor sie.
Schon ein paar Wochen später kommt die Trotzreaktion der Profis tatsächlich: 7 : 0 gegen Malta, 2 : 0 in der Schweiz. Und als alles wie von selbst zu laufen scheint, die nächste Blamage. 0 : 2 gegen Ungarn, in Kaiserslautern. "Vielleicht tut uns Ruhe ja gar nicht so gut", sagt Völler vor dem Abflug nach Portugal.
Endlich geht es wieder um die Ehre. Etwas Besseres konnte ihm nicht passieren.
Sicher, bei der EM wird es keinen Spaß machen, Völlers Mannen zuzuschauen, sie werden wieder die WM-Deutschen von 2002 sein, die sich einen Dreck scheren um die Anmut ihrer Passfolgen und kratzen und beißen, genau wie Völler dies selbst früher tat. Bis zum Finale hat es in Asien ja gereicht.
Während des Gesprächs in Leverkusen schaut Völler durch das Panoramaglas ins Stadion. Hier fing alles an. Hier war er Sportdirektor, nicht weiter beachtet, als sie ihn fragten, ob er nicht den Teamchef machen wolle, weil Ribbeck gefeuert war und Daum noch nicht frei. Seine Hauptqualifikation damals, wenn man ehrlich ist: Alle mochten ihn.
Völler ist kein Revoluzzer. Und keiner, der den Gegner am Schreibtisch besiegt, dafür hat er Michael Skibbe. Womöglich könnte Völler mit den ausgereiften Franzosen nicht viel anfangen. Aber für diese deutsche Mannschaft ist er der richtige Trainer. Und es gibt keine andere. Bis 2006 nicht. Sie ist begrenzt, sie kann nicht glänzen wie Portugiesen oder Holländer. Aber sie kann zermürben.
Ein labiler Haufen bestreitet nächsten Dienstag gegen Holland sein erstes Spiel in Portugal: die eine Hälfte noch grün hinter den Ohren, die andere, die mit den Etablierten, leckt sich die Wunden der Saison. Eine schutzbedürftige Gemeinschaft. Ein Team, dem man Mut machen muss, dann kann es, vielleicht, Großes schaffen.
"Das können wir unseren Landsleuten nicht antun", hat er in der Kabine in Bukarest gebrüllt. Er zürnte. Aber er sagte "wir", er sagte "Landsleute". Er setzt sich immer mit ins Boot. Völler, 44 Jahre alt, Arbeitersohn, vier Kinder, hat selbst in seiner Karriere alles erlebt, und deswegen weiß er, wie er jeden Profi anpacken muss. Er brennt vor Ehrgeiz, und er lenkt die Gruppe durch Wärme. Er ist das Kraftwerk dieses Teams.
Bei einem Match
steht er meist nur da, die Arme verschränkt, und schmiegt sich in das Spiel. Nach wichtigen Partien sieht er so erschöpft aus, als hätte er mitgekickt. Und diese unzuverlässige, begabte, zum Haareraufen unberechenbare Mannschaft braucht das auch. Sie braucht einen Spielertrainer.
Der hat die beste Ausbildung genossen, die es gibt: Sechs Jahre diente er unterm Kaiser, seinem ersten Lehrmeister. Der zweite Lehrmeister: er selbst. 589 Spiele auf höchstem Niveau hat Völler bestritten, sechs große Turniere erlebt, die Schultern hochgezogen, seltsam watschelnd, aber sauschnell auf den ersten Metern. 1990 wurde er Weltmeister, und 1994 flog er gegen Bulgarien raus. Instinktiv hat er in dieser Zeit aufgesogen, wie sich Erfolg locken lässt: wenn in einer Mannschaft alle wirklich wollen. Das ist sehr schwer zu steuern, es ist eine Kunst, Mannschaftsführung. Aber das ist Völlers ganzes Programm. Es ist begrenzt. Aber das ist sein Team auch.
"Ohne einen starken Trainer geht das Theater los", sagt Dietmar Hamann, den Völler zum Herrn des defensiven Mittelfelds befördert hat, ein kluger Schachzug, "und so einen Trainer haben wir." Ein starker Coach ist treu, dann dankt es ihm sein Schützling.
Am besten lässt sich der Spielertrainer mit seiner Italienphase erklären. 1987 war's, Völler wechselte zum AS Rom, deutscher Wunderstürmer. Und Rudi traf nicht. War verletzt, saß auf der Bank. In der italienischen Presse verglichen sie Torzahl mit Ablösesumme, miese Quote. Aber Teamchef Franz Beckenbauer sagte vor der EM 1988 nur: "Wenn Rudi spielen will, dann spielt er." Und Rudi spielte.
Ein Stürmer, altes Klischee, sagt danke schön mit Toren. Rudi schoss die Deutschen mit zwei Treffern ins Halbfinale, damals begann das mit dem Ruuudi. Und im WM-Finale 1990 war es der erneut Umstrittene, den schon das Alter bremste, der den Elfmeter rausholte. "Die Nationalmannschaft war mein Verein", sagte Völler mal, "und Franz Beckenbauer meine absolute Vertrauensperson."
Vor ihm stehen Bayer-Schnittchen, aber Rudi Völler rührt sie nicht an. Fünf, sechs Kilo hat er zu viel, er misst sich noch immer am Wettkampfgewicht. "Das Wichtigste", sagt er und beugt sich nach vorn, "ist, dass ein Spieler Vertrauen spürt."
Er lässt so schnell keinen fallen. Und wer steht nicht in seiner Schuld? Die Stürmer, von denen er trotz Tordürre niemals einen abserviert hat? Der so lange verletzte Jens Nowotny? Christian Ziege, vereinsloser Fastinvalide? Jens Jeremies, bei Bayern oft nur Ersatz?
Oder Fredi Bobic. Der, sagen seine Kritiker in Berlin, sei selbst für die Bundesliga zu langsam - und bei Völler? Spielt er oft. Weil er bei Völler oft trifft. "Nur mit Jungen geht es nicht", sagt der Teamchef, wobei er die Brauen hochzieht, ein Hauch von Zorn, "mir geht die Hysterie immer zu weit. Die Mischung muss stimmen." Das ist so ein Völlerwort: Mischung.
Ein Team muss ein harmonisches Gebilde sein. Und Bobic, sloweno-kroatischer Schwabe, ist einer, der im sonst stillen Kader fehlte: einer, der brüllt, schimpft, anfeuert, ein abgezockter alter Sack, der ab und zu ein Törchen aus dem Nichts erzielt, mit einem hinterfotzigen Schuss. Bei der EM soll er Miroslav Klose und Kevin Kurányi locker schwatzen.
Völlers Traum ist es
, einen Weltklassestürmer hervorzubringen. Auch ein Instinkttrainer will ein Vermächtnis hinterlassen. Wenn Völler Kurányi sieht, denkt er an Jürgen Klinsmann, der ihn 1988, selbst ein Jungspund, aus der Krise paukte. Noch heute schwärmt Völler davon, dass einer dem anderen die Tore gönnte.
Kurányi ist ein Sonnyboy, ein Tänzer, aber ohne Hochmut, fast schüchtern. Formbar. So einem sieht man viel nach: etwa, dass seine Laufwege oft nicht wirklich ins Spiel passen. Kurányi ist selbstlos, manchmal zu selbstlos. "Kevin muss etwas egoistischer werden", sagt Völler, "aber ich selbst habe dazu auch etwas Zeit gebraucht." Der Bauchtrainer braucht solche Jungs, in die er sich hineinfühlen kann. In manchen Momenten wirkt er geradezu väterlich. Ein bisschen wie Otto Rehhagel, sein Vatertrainer aus Bremer Zeiten.
Und nie wirkte Völlers Schulterklopfen so passend wie bei Philipp Lahm, 20, als der im Februar in Split den Journalisten vorgezeigt wurde, auch wenn man Sorge haben musste, der Kerl zerbreche fast unter Rudis Armklammer. Im letzten Training vor seinem Debüt übte Lahm Flanken. Er ist nicht sehr viel größer als die Eckfahne und nicht viel breiter, aber der Mann, der eine große Sorge Völlers lösen soll, die linke Seite. Er flankte und flankte mit links, mal flach, mal schlapp, Rechtsfuß eben, und Völler sagte, sooft es ging: "Schön!"
Vier Monate später hat Lahm, Knopfaugen unter dicken Brauen, seinen Stammplatz sicher. Der Verteidiger rast wie ein Carrera-Auto die Außenbahn auf und ab, und auch wenn er hinten mitunter erschreckend falsch steht, von Völler kann er Nachsicht erwarten. Vor zwei Jahren baute der Teamchef so Christoph Metzelder auf. "Wenn etwas schief ging", erzählte damals der 21-Jährige, "hat Völler mir gesagt: Versuche es weiter. Das verlange ich von dir."
Natürlich fehlt dem Team
Präzision und Originalität, aber dafür haben die Deutschen Wucht zu bieten, eine gewisse störrische Kraft, die im Mittelfeld entsteht, wenn die Maschine anspringt, wenn Hamann, Ballack, Frings und Schneider ins Spiel finden, und wenn man von Wucht redet, muss man von Frings reden. Frings ist der Heizer der Maschine. Und besitzt einen feinen Fuß noch dazu. "Torsten hat eine tolle Entwicklung genommen", sagt Papa Völler. Frings träumt von der Chefrolle in der Zentrale. Und spielt trotzdem überall. Als Frings am Kreuzband verletzt war, hat Völler ihn oft in Dortmund angerufen, ich baue auf dich, hat er gesagt, Mut zugesprochen, all das. Es ist auch die Investition eines Trainers.
Wie in Sachen Ballack. Vor Wochen flog Völler eigens nach München, um seinen wichtigsten Feldspieler zum Abendessen zu treffen, ihm beim FC Bayern beizustehen. Ich glaube an dich, hat er zu Ballack gesagt. Der soll bekanntlich Chef sein und herumzaubern und zugleich die Tore machen, nicht weniger als das. Unter den letzten Monaten hat Ballack mehr gelitten, als viele vermuten. Nun, bei Völler, ist das System ihm auf den Leib geschneidert: Ballack passt auf die Flügel, stößt in die Spitze, hinter ihm sichern Hamann oder Frings. Und auf der rechten Seite trickst sein Kumpel Bernd Schneider, der Ballacks Spiel verstanden hat wie kein anderer. Monatelang war er völlig außer Tritt, und jetzt ist der alte Schnix immer wieder da, der mit dem Hintern wackelt, bis der Gegner ausgetanzt ist. Und in der Mitte den Langen bedient. Für die Nationalelf traf Ballack gegen Malta viermal.
Ein Sorgenkind weniger.
Nationalspieler von heute sind verletzbarer, als Völler es früher war. "Gläserner", sagt er und senkt die Stimme, er meint: in den Medien. Das Thema geht ihm nahe. Völler meint auch: Oliver Kahn. Erst füllte Kahn die Titelseiten wegen seiner privaten Kämpfe. Dann patzte er bei Bayern stets, als er es am wenigsten durfte. Kahn verlor seinen Fokus. Und danach die Aura des Unbezwingbaren. Ob es dem Getriebenen jetzt hilft, dass er andeutete, die Bayern nach der EM verlassen zu wollen?
"Im Prinzip muss man sich da einen Panzer zulegen", sagt Völler. Einen Panzer für die EM: Den kann Kahn haben. Völler hat ihn nie infrage gestellt. Dafür verbietet er dem Weltstar schon mal, wie bei der WM, das Golfen. Beim FC Bayern hat das zuletzt keiner gewagt.
Vier Jahre als Teamchef sind in dieser Branche eine lange Zeit. Und Völler hat die Autorität des Vizeweltmeisters. Seine Haare sind ganz weiß geworden, doch noch immer hat er für jeden ein Zwinkern und einen Knuff parat, und das ist erstaunlich genug.
Dabei ist er in dem, was er sagt, oft ganz weit weg. Hintersinnigen Fragen weicht er aus, springt wie früher als Stürmer über die Sensen. Sein Riecher, der war als Spieler seine größte Stärke, auf ihn verlässt er sich noch heute. In der Öffentlichkeit klafft ein seltsamer Widerspruch zwischen seiner herzlichen Körpersprache und seinen gewundenen Aussagen. Er lässt ahnen, wie Völler mit sich kämpfen muss in diesem Job. Und Ottmar Hitzfeld trommelt schon heimlich mit den Fingern. Harte Zeiten. Es wird wieder wehtun.
Als Völler noch Stürmer war, 90 Länderspiele, 47 Tore, wetzte er immer dahin, wo es auf die Knochen gibt, aber einem manchmal, unerwartet, der Ball vor die Füße rollt. Rudi Völler dürfte sich in diesen Wochen sauwohl fühlen.