Die Stimmung in Luxemburg war gut am Montagabend. Eine lange, zähe Verhandlung war es gewesen. Die Ost-Europäer hatten sich quer gelegt, auch die Niederländer und die Luxemburger. Aber dann, spät, war der Durchbruch geschafft. Alle stimmten zu, nur einer enthielt sich, und Österreichs Wirtschaftsminister Martin Bartenstein durfte Vollzug melden. Nach jahrelangem Hin und Her hatten sich die EU-Regierungen auf eine EU-Dienstleistungsrichtlinie geeinigt. Zwar muss das Werk noch formal abgesegnet werden, auch das Parlament geht noch einmal drüber, aber im Prinzip ist das Ding nach jahrelangem Gezerre im Kasten. Mit entsprechend hehren Worten priesen der EU-Ratsvorsitzende Bartenstein und EU-Kommissar Charlie McCreevy den Beschluss.
Stichwort Dienstleistungsrichtlinie
Die Weichen für die heftig umstrittene Öffnung des EU-Dienstleistungsmarktes sind gestellt. Hoffnungen auf zahlreiche neue Arbeitsplätze durch einfachere Regeln für grenzüberschreitende Geschäfte von Dienstleistern standen lange Ängste vor Sozialabbau und rapide sinkenden Löhnen gegenüber. Die 25 EU-Staaten folgten nun einem Kompromiss des Europäischen Parlaments, der die ursprünglichen liberalen Pläne mit Rücksicht auf Gewerkschaftsproteste einschränkt.
Was regelt die Richtlinie?
Sie soll allgemein verbindlich klären, zu welchen Bedingungen Dienstleister aus einem EU-Land in einem anderen vorübergehend Aufträge übernehmen können. Erfasst werden alle nicht ausgeschlossenen Bereiche, also Handwerksleistungen ebenso wie viele freie Berufe wie Architekten und auch Unternehmensberater und Wartungsdienste. Theoretisch gibt es den Binnenmarkt für Dienstleister bereits, die Richtlinie soll aber seine Regeln klarstellen.
Welche Vorteile haben Unternehmen?
Beim Abbau von Bürokratie sollen zentrale Ansprechpartner in jedem Land helfen. Die EU-Staaten dürfen von Unternehmen aus anderen Ländern nicht die Mitgliedschaft in Kammern oder anderen Standesorganisationen verlangen. Verboten werden soll auch, Ausweise oder Genehmigungen vorzuschreiben oder das Einrichten von Geschäftsräumen zu verlangen.
Welche Ausnahmen sind vorgesehen?
Ausgenommen von der Richtlinie sollen unter anderem folgende Bereiche sein: Die gesondert geregelten Finanzdienstleistungen, Dienstleistungen, die nach Einschätzung der Mitgliedstaaten von allgemeinem Interesse sind, Verkehr einschließlich Taxen und Nahverkehr, audiovisuelle Medien, Gewinnspiele, Zeitarbeitsagenturen und Sozialdienste einschließlich der Pflegedienste. Ausgenommen werden auch Postdienste, die gesondert geregelte Strom- und Gasversorgung, die Wasserversorgung und die Müllbeseitigung.
Welche weiteren Einschränkungen gibt es?
Zudem können sich die EU-Staaten auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung, den Schutz der Arbeitnehmer, der Umwelt, des historischen Erbes und eine Reihe weiterer Gründe berufen, um Auflagen zu erlassen. Dabei dürfen sie auch verlangen, dass Tarifverträge über Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden. Für die Auflagen gelten Grenzen, sie müssen jeweils begründet werden. Bereits ohne Richtlinie gab es darüber oft Streit, der vor den Europäischen Gerichtshof führte.
Mindestlöhne können die EU-Staaten bereits seit 1999 auf Grundlage der Entsenderichtlinie festlegen. In Deutschland wird über eine stärkere Festschreibung von Mindestlöhnen debattiert.
Was wurde aus dem Herkunftslandprinzip?
Das so genannte Herkunftslandprinzip war der Kern des Streits. Es besagte, dass bis auf bestimmte Ausnahmen ein Unternehmen in jedem anderen EU-Staat Dienstleistungen anbieten kann, wenn es die Gesetze seines Heimatlandes einhält. Gewerkschaften befürchteten dadurch eine Abwärtsspirale bei Sozialstandards. Das Parlament kippte dieses Prinzip und auch die Kommission und Ministerrat ließen es fallen. Stattdessen ist von der Freiheit der Dienstleistung die Rede.
Reuters
"Es ist uns Sand in die Augen gestreut worden"
Andernorts wollte man sich über die Einigung nicht ganz so freuen. Zwar wurde allenthalben gelobt, dass die EU-Minister sich auf eine entschärfte Richtlinie geeinigt haben, vor allem Linke warnten am Dienstag jedoch weiter davor, dass die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie möglicherweise Sozialstandards in Europa drücke und Sozialdumping begünstige. "Im Prinzip hat sich im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf nicht viel geändert", sagte Stephan Lindner, Europa-Experte des globalisierungskritischen Netzwerks Attac, stern.de. "Es ist uns vor allem Sand in die Augen gestreut worden, auch wenn es kleine Fortschritte gibt." Jan Jurczyk, Sprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, gab sich vorsichtiger. Noch seien die Details der Vereinbarung vom Montagabend nicht bekannt, sagte er stern.de. Es könne durchaus sein, dass der Vorschlag zentrale Gewerkschaftsforderungen aufgenommen habe. Generell aber gelte, so Jurzyk: "Das Misstrauen bleibt, weil dieses Misstrauen sich im ganzen Verfahren bislang als gerechtfertigt erwiesen hat. Für eine abschließende Beurteilung ist es allerdings noch zu früh."
Kritik gab es auch von marktliberaler Seite. So bemängelte der FDP-Europa-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff den Beschluss. "Die rot-schwarzen Wettbewerbsverhinderer haben sich nun auch in Brüssel durchgesetzt. Wachstum und Jobs können mit diesem verwässerten Richtlinientext nicht mehr erreicht werden", sagte Lambsdorff.
Über die Richtlinie wird seit 2004 gestritten. Im Prinzip ist es ihr Ziel, Handelshemmnisse zwischen den EU-Staaten auch in dem wichtigen Sektor der Dienstleistungen abzubauen. Nur, welche Regeln sollen für grenzüberschreitende Dienstleistungen innerhalb der EU gelten? Unter welchen Umständen etwa darf ein französischer Heizungsmonteur seine Dienste in Deutschland anbieten? Unter welchen Umständen darf ein polnischer Maurer hier Häuser hochziehen? Welche Löhne müssen sie bezahlen? Welche Auflagen müssen sie erfüllen? Reicht es, dass sie sich an das Recht ihres Heimatlandes halten oder müssen sie auch jenen Regeln entsprechen, die in jenem Land gelten, in dem sie ihre Leistung erbringen? Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es nicht nur um das Wohl des Binnenmarkts - schon jetzt werden 70 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung im Dienstleistungssektor erbracht, sondern auch um soziale Ausgewogenheit.
Mit seinem Beschluss hat der Ministerrat den Streit nun vorerst beendet - und zwar so, wie es vor allem Arbeitnehmervertreter erhofft hatten. Sie hatten den ursprünglichen Entwurf des damaligen EU-Kommissars Frits Bolkestein als "neoliberal" gegeißelt und ihn abgelehnt. Auch aufgrund europaweiter Proteste hatte das EU-Parlament in diesem Februar einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Den haben die Regierungen jetzt weitgehend übernommen.
Parlament setzt auf "Bolkestein light"
Die Kritik an dem ursprünglichen Bolkestein-Vorschlag konzentrierte sich vor allem auf das Herkunftslandprinzip, das der Kommissar in der Richtlinie verankerte. Demnach hätte ein polnischer Maurer seine Leistungen in Deutschland, Frankreich oder Spanien zu polnischen Bedingungen anbieten - also auf der Basis polnischer Löhne und auf der Basis polnischer Arbeitsschutzbestimmungen. Einigen EU-Mitgliedern gefiel das, vor allem den "Neuen" im Osten, aber auch den traditionell marktliberalen Briten, den Niederländern und den Luxemburgern.
In anderen westeuropäischen Staaten liefen die Gewerkschaften Sturm. Sie befürchteten das Abgleiten in eine soziale Abwärtsspirale. In Frankreich scheiterte 2005 das Verfassungsreferendum nicht nur, aber auch, weil die Bürger jene Billiglohn-Konkurrenz aus dem Osten fürchteten, die die Richtlinie zu verheißen schien.
Im Februar dieses Jahres nun legte das EU-Parlament einen entschärften Entwurf vor. Dieser sah vor, dass bestimmte Berufsgruppen einfach von der Richtlinie ausgenommen werden sollten: Dazu gehören Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Verkehr und Sicherheitsdienste. Umstritten blieb, ob Pflegedienste auch von der Richtlinie betroffen sein würden oder nicht. Auch bei den Rechtsvorschriften machten die Parlamentarier Ausnahmen. Die Richtlinie betrifft demnach Arbeits- und Gesundheitsschutz ebenso wenig wie das Arbeits-, Arbeitskampf-, Gewerkschafts- und Sozialrecht.
Das Herkungslandprinzip wird gestrichen"
Wichtig war auch, dass das EU-Parlament den umstrittenen Begriff des "Herkunftslandsprinzips" tilgte. Stattdessen wurden jene Bereiche festgelegt, an denen im Bestimmungsland nicht gerüttelt werden darf. Statt also zu sagen, dass bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen durch einen Polen grundsätzlich die polnischen Regeln gelten, gibt es im Parlaments-Entwurf Bereiche, in denen das Recht des Bestimmungslandes gilt. Das trifft zu bei Fragen der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit, der Gesundheit, des Umweltschutzes, bei Tarifverträgen und dem Arbeitsschutz.
Noch sind die Details der Einigung vom Montag nicht bekannt. Jedoch hieß es, man habe sich mit wenigen Änderungen am Entwurf des Parlaments orientiert. Der deutsche Wirtschaftsstaatssekretär Joachim Würmeling, der die Verhandlungen im Namen der Bundesregierung führte, betonte zudem, dass Pflegeleistungen in jedem Fall nicht von der Richtlinie betroffen sein werden. "Durch die geänderte Formulierung sind Pflegeleistungen ebenso wie Gesundheitsdienstleistungen unmissverständlich von der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen", sagte er. "Ein drohender Qualitätsabbau in der Pflege konnte dadurch verhindert werden."
Attac-Experte Lindner bewertete die bisher bekannten Ergebnisse am Dienstag vorsichtiger. "Was die Ausnahmen angeht, muss man natürlich erst einmal abwarten, was da genau beschlossen wurde," sagte er stern.de. Er sagte jedoch, dass jene Bereiche, die nicht von der Dienstleistungsrichtlinie erfasst sind, rechtlich nicht automatisch so abgefedert seien, dass ausreichende soziale Mindeststandards gewährleistet würden. Es gebe noch erhebliche rechtliche Lücken. "Bisher fehlt etwa noch jede positive Regelung, die anerkennt, dass nationale Tarifverträge zwischen Tarifparteien auch von ausländischen Dienstleistern anerkannt werden müssen", sagte Lindner. Attac fordert, nationale Sozialstandards auf die europäische Ebene zu heben. "Wir müssen diese Standards schrittweise nach oben angleichen", sagte Lindner.