Kommentar Atomstrom ist ur-sozialdemokratisch

Angela Merkel muss beim G8-Gipfel, wider Willen, den Ausstieg aus dem Atomstrom verkaufen. Ihren Kollegen und der Welt ist das herzlich egal. Zu Recht. Denn nur Atomstrom gewährleistet die Grundenergieversorgung - und die ist nichts anderes als Sozialpolitik.

Im Herbst vergangenen Jahres sprach Dr. Angela Merkel ein lakonisch-weises Wort: "Wenn man sich die Welt anschaut - egal, ob man positiv oder negativ zur Kernenergie steht - muss man sagen: Die Welt wird sich hierbei relativ wenig nach unserer Meinung richten." Das ist wahr. Und richtig zum Staunen ist, wie eilig es die Welt damit hat: Atom ist angesagt, Uran ist hip, auf vier Kontinenten, von Südafrika bis Sibirien, von Kanada bis Argentinien: 36 neue Kernkraftwerke sind im Bau, 81 in Planung.

EU-Kommissionspräsident Barroso belehrte vor wenigen Tagen die Republik - zutreffend - darüber, dass Atomstrom doch recht nützlich sei, wenn man das Erdklima tatsächlich vor Kohlendioxid-Übersättigung schützen wolle. Auf dem G8-Gipfel, der zurzeit im nordjapanischen Kurort Toyako tagt, finden sich die Deutschen jedoch noch in ihrer historischen Lieblingsrolle: Allein gegen alle.

"Lackmustest für die Ernsthaftigkeit eines Landes"

Ausgerechnet die führende Qualmfabrik des Planeten, die USA, lassen die Kanzlerin wissen, die konsequente Förderung der Kernenergie sei ein "Lackmustest für die Ernsthaftigkeit eines Landes" beim Kampf gegen die atmosphärische Überhitzung (Präsidentenberater Jim Connaughton). Und alle nicken. Nur Angela Merkel nicht - obwohl sie auch gern nicken würde, und weiß, dass es richtig wäre, kaum bestreitbar, eigentlich auch ihre Überzeugung, aber leider, leider, gegen die Staatsräson.

Denn wir Deutschen haben etwas, das uns einzig macht in der G8, ach, nicht nur dort, selbst in der OECD, der industrialisierten Welt und unter allen, die ansonsten ganz vernünftig sind: den heiligen Atomkompromiss, ein nationales Sakrosanktum. Eine Generation von Scheinhelden glaubt, ihn an den Zäunen von Brokdorf erstritten, im Hüttendorf von Gorleben ersessen und sodann auf dem langen Marsch durch den institutionellen Unterbau des staatsmonopolistischen Kapitalismus endgültig errungen zu haben: Die Blechnäpfe voll Penne al Tartufo, die Feldflaschen voll Nobile di Montepulciano zog die Vorhut der Anti-AKW-Bewegung (sie nannten sich tatsächlich so: "Bewegung"!) schließlich zum Schlammcatchen mit den "Bossen".

Heraus kamen: Restlaufzeiten. Die Schlünde zur Verstrahlungshölle, die angeblichen Todesfabriken der zynischen Leukämie-Industrie, die tickenden Zeitbomben, sie sollten weg - aber doch erst einmal weiterticken, bis dann 2021 der letzte Hauptschalter auf Null gestellt werden würde, in Neckarwestheim 2. Das also ist der große Kompromiss.

Einen solchen Kompromiss zu schließen aber hat Konsequenzen weltanschaulicher Natur. Dadurch, dass man ihm zustimmt, gesteht man ein, was der große Lehrer Zeit nüchternere Naturen längst gelehrt hat: dass unsere 17 Nuklearkraftwerke, von Brunsbüttel bis Gundremmingen, von Emsland bis Isar, sich beharrlich weigern, in die Luft zu fliegen, im Wochentakt tödliche Strahlenwolken freizusetzen, um "das Land unbewohnbar" zu machen.

Die alten Biester stehen einfach da

Die alten Biester stehen einfach da, inmitten blühender Landschaften, sehen auf abenddämmerlichen Fotos fatalerweise auch noch hübsch aus und produzieren CO₂ -frei, still und leise: 45 Prozent der Grundlast, jenes Stroms, der dauernd da ist, dauernd da sein muss, damit der Wirtschaftsstandort Wirtschaftsstandort bleibt. Wer macht den Rest? Braunkohle, zu 49 Prozent, Wasserkraft, sechs Prozent. Der Beitrag von Wind und Sonne dabei? Null.

O nein! Moment mal!, sagen die Abschalter: Kernkraft sei gar nicht CO₂-neutral, man müsse doch den gesamten Lebenszyklus betrachten - Uranbergbau, Brennstabfertigung, Wiederaufarbeitung und der Rückbau von Altanlagen, das alles produziere Treibhausgas. Stimmt total! Und zwar, je nach Studie (unter anderem vom Öko-Institut) zwischen fünf und 33 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde. Wie sieht es mit Wasserkraft aus? Vier bis 36 Gramm. Und schließlich die gute, deutsche Traditions-Braunkohle, welche einst dem Himmel über den Ländereien der Arbeiter und Bauern die Würze gab: zwischen 838 und 1231 Gramm. Jedem Viertklässler muss der Nachweis gelingen: Je nach Rechnung produziert die deutsche Braunkohle zwischen 25- und 246-mal so viel Erderwärmung wie unsere braven Brennstäbe. Und Windkraft? Zehn bis 38 Gramm CO₂ pro KWh. Die coolen, teuren Solarzellen? 78 bis 217 Gramm - leider, leider immer noch zweieinhalb- bis 43-mal mehr als das Atom. Und - Sie werden es erraten haben: Weder Wind noch Sonne taugen zur Sicherung der Grundlast, jenes, wie schon gesagt, Stroms, der immer da sein muss.

Die Sonne scheint nicht nachts

Bekanntlich scheint nun die Sonne über Deutschland (vorbehaltlich plattentektonischer Wanderungen und der Einhaltung der Erdachsenstellung, also für die nächsten paar Dutzend Millionen Jahre) nicht nachts (ja, ja, ein Zirkelschluss). Und der Wind weht, wie er will. Aber Grundlast muss sein.

Nun kommt die deutsche Sozialdemokratie ins Spiel. Ihr dämmert insgeheim: Grundlastsicherung ist Sozialpolitik. Ein deutsch-isolationistischer Atomausstieg könnte - neben den bereits genannten unschönen Klimafolgen - unsozial sein und somit (hier besinnt sich heimlich die Partei auf ihre Werte und Wurzeln) unsozialdemokratisch. Weil Sich-eines-Besseren-Besinnen stets ein taktisches Hochrisiko-Manöver darstellt, erscheint es tatsächlich opportun, weise Greise vorzuschicken, um eine große Zehe in die Strudelgewässer des Gesinnungswandels zu tauchen: Erhard Eppler, 81, sagt also, ja, man könnte die Reaktoren länger laufen lassen, wenn hoch und heilig versprochen wird: Danach ist Schluss. Das könne man sogar im Grundgesetz verewigen.

Warum ist das eine gute Nachricht? Weil es diesmal eben nicht nur darum geht, wahltaktische Kleinlichkeiten im Angesicht gipfelstürmender Benzinpreise auszutarieren, wie wir es alle gewohnt und alle leid sind. Es geht tatsächlich um die langen Linien: Noch zwei, drei Generationen Diesel und Benziner, dann werden unsere Autos elektrisch angetrieben werden müssen, und natürlich nächtens aufgeladen.

Aufgeladen an der Steckdose freilich - wo sonst? Aus der aber sollte für absehbare Zeit ein klimafreundlicher, rational zusammengesetzter Energiemix strömen, den wir in 15, 20 Jahren vermutlich nur auf zweierlei Weise bekommen können: aus unserer schönen, schmutzigen Rohbraunkohle, deren Feinstaub-Brennrückstände teilweise radioaktiver sind als die Umgebung jedes Atommeilers. Oder mithilfe von Kernkraft-Import. Aus Frankreich zum Beispiel, mit seinen derzeit 59 Kraftwerken, gegenüber 17 deutschen? Oder lieber ostwärts schauen? Denn irgendwer, da sind wir nun bei Grund- plus Spitzenlast, muss die Elektroautos der Zukunft (die Freizügigkeit des individuellen Fahrens werden sich die Deutschen kaum abgewöhnen und auspredigen lassen) bauen: Metall schmelzen und formen, Kunststoffe synthetisieren und verarbeiten, schweißen, bohren, fräsen, drehen, nieten, heißkleben, walzen. Mit Energie. Oder dürfen es Japaner, Inder und Chinesen untereinander aufteilen? Japan hat 55 Kernkraftwerke in Betrieb, zwei im Bau. Indien 17 plus sechs. China 11 plus fünf. Und viele Pläne in den Schubladen.

Zwingende Einheit von Energie und Sozialpolitik

Womit wir bei der zwingenden Einheit von Energie- und Sozialpolitik anlangen: Stürzt sich Deutschland sehenden Auges in die Grundlastlücke, die sich in den nächsten Jahrzehnten deshalb auftut, weil Wind und Solar so manches, aber keine Wunder wirken und Biokraftstoffe eher den Armen die Teller leerfressen als die Öko-Zukunft bringen, dann ist der Wohlstand weg. Und das mögen die Deutschen überhaupt nicht. Ist der Wohlstand weg, so zeigt sich schon heute, die Friedrich-Ebert-Stiftung hat es kürzlich aufgezeigt: Schon bei lediglich gefühltem Pauperismus sind die Landsleute in Massen bereit, auf derlei Luxus wie Demokratie und Parlamentarismus zu verzichten.

Soll man das wollen? Noch in dieser Woche werden wir von den Demografen erfahren: Die Lager der Ausstiegs-Befürworter und der Verlängerungs-Anhänger liegen gleichauf - Zeit also, Politik zu machen. Die Tür zur Vernunft hat sich einen Spaltbreit geöffnet. Man ist versucht - nur für die echten Insider - zu sagen: Ein Strahl bläulichen Tscherenkow-Lichtes dringt schon heraus.

Denn es bleibt wahr: In der globalisierten Welt fehlt für eine 82-Millionen-Industrienation, die aus Gründen der politischen Romantik kleines gallisches Dorf spielen möchte, das Biotop. Sieben der acht G8er haben recht, wenn sie Angela Merkel jetzt ärgern, weil sie wider besseres Wissen an der deutschen Prinzipienreiterei deklarativ festhält, wiewohl sich die Welt tatsächlich nicht drum schert.

Und es ist schön, wenn sich erste Sozialdemokraten aus den Konventionen des Rudeldenkens lösen und endlich der Einsicht zur Geltung verhelfen, dass die Kernenergienutzung für einige Zeit über das aus dem Machbarkeitswahn der rot-grünen Jahre geborene Ausstiegsszenario hinaus notwendig bleiben wird.

Wir sind alle RWE!

Sie sollten sich nicht von der Phalanx der Kurzsichtigen irre machen lassen: Die Kritik, ein extendiertes Festhalten am Atom senke nicht kurzfristig die Stromrechnungen der Bürger, geht am eigentlichen Problem der mittelfristigen Zukunftssicherung vorbei. Denen, die einmal mehr beklagen, Atomstrom "erhöhe ausschließlich die Profite der Energiekonzerne", sei zum guten Schluss ein bislang völlig ungekanntes, kostbares und geldwertes Geheimnis enthült: Außer Vattenfall, dem schwedischen Staatskonzern, sind Eon, EnBW und RWE für jedermann zu haben - fragen Sie nach bei der Börse Ihres Vertrauens. Flugs sind deren Profite Ihre Profite, und Sie dürfen ausrufen: Wir sind alle RWE! Ludwig Erhard hätte das gefallen.