Wem gehört der Straßenraum in den Städten? In Deutschland muss man nur aus dem Fenster sehen, und man weiß die Antwort: Die Straße gehört den Kraftfahrzeugen – alle anderen Verkehrsteilnehmer werden an den Rand gedrängt und sind bestenfalls geduldet.
Doch immer mehr Städte denken um - in Skandinavien schon seit Längerem. Dort genießt man heute die Ergebnisse einer wirklichen Verkehrswende, die in Deutschland nur beschworen wird: Die Zahl der Kinder, Fußgänger und Radfahrer, die von Kraftfahrern getötet werden, ist dramatisch gesunken – in einigen Großstädten bereits auf null. (Lesen Sie hierzu: "Helsinki meldet null tote Radfahrer und Fußgänger im Verkehr") Doch auch die Bürgermeisterin der französischen Hauptstadt, Anne Hidalgo, will den Verkehrsmoloch Paris seit 2014 zähmen.
Verkehrswende wird Wahl entscheiden
Hidalgo hat ein Ufer der Seine für Autos sperren lassen und treibt den Ausbau eines Netzes von Radwegen energisch voran. In nur einem Jahr sind die Fahrten mit dem Rad vor allem unter Pendlern um 50 Prozent gestiegen. Erstmals seit 1940 geht die Nutzung des Autos in Paris zurück.
Ein großer Erfolg, denn die neue Infrastruktur für Räder und Scooter besteht bislang nur aus Teilstücken. Wenn erst ein durchgängiges Netz erreicht sein wird, wird die Akzeptanz weiter ansteigen. Derzeit spielen ihr die Streiks im öffentlichen Nahverkehr in die Hände: Weil keine Bahnen fahren, probieren viele das Rad einmal aus.
Autoverkehr wird sehr langsam werden
Ihr Versprechen: Jede einzelne Straße wird zugunsten von Fußgängern und Fahrradfahrern umgestaltet. Die Illustrationen der Kommune machen dabei deutlich, dass in vielen Wohnstraßen kein Platz mehr für Autos vorgesehen ist. 72 Prozent der öffentlichen Parkplätze sollen einfach verschwinden. Und wer doch noch eine Tiefgarage für sein Auto findet, wird kaum noch vorankommen.
In der Mitte der Wohnstraßen bleibt nur eine Mix-Zone für alle Verkehrsteilnehmer. Das Überholen von Kraftfahrzeugen ist schlichtweg nicht mehr vorgesehen. Wer dort noch mit dem Auto fährt, wird hinter einem Kind auf dem Dreirad hinterherfahren müssen. Der Rest der Fahrbahn und die Parkplätze werden in Grün- und Erholungszonen umgewandelt.

Anne Hidalgo hat erkannt, dass es nicht ausreichen wird, das Auto einfach zu verbieten. Sie will die Stadtviertel wieder in eine Form zurückverwandeln, die die Stadt vor dem Triumphzug des Automobils hatte. Sie nennt das die "Stadt der fünfzehn Minuten" - Ville Du Quart D'Heure. Alle Besorgungen und Einrichtungen solle der Bürger innerhalb von 15 Minuten erreichen können – ohne Auto wohlgemerkt. Das ist in Paris aber nicht so schwer, wie es sich anhört. Ein E-Bike kann auf geeigneten Wegen in 15 Minuten sechs Kilometer zurücklegen. In der eigentlichen City ist das eine große Entfernung. Das Pariser Stadtgebiet ist relativ kompakt. Von einer Grenze bis zur anderen sind es maximal zehn Kilometer – mit dem Rad kann man die ganze Stadt in einer halben Stunde durchqueren. Mit dem Auto ist das heute kaum möglich.
Stadtform vor dem Auto
Die größten Verkehrswege, die prächtigen Avenuen des Stadtumbaus des 19. Jahrhunderts, sollen für Kraftfahrzeuge weitgehend gesperrt werden. Die einst großzügig angelegten Plätze sind heute meist riesige Kreuzungen. Sie sollen wieder in einen Platz für die Bürger, also in eine Fußgängerzone verwandelt werden. An die Stelle der Parkplätze sollen Grünflächen, Gemüsegärten und Spielplätze treten.
Das Verschwinden der öffentlichen Parkplätze allein wird den Verkehr kaum bremsen, dazu gibt es zu viele private Stellflächen. Wenn die Bürgermeisterin aber die großen Plätze und Straßen sperrt und die Wohnstraßen in eine Art von Flanier- und Spielstraßen verwandelt, wird es sinnlos, mit dem Auto zu fahren. Ganz nebenbei erteilt Hidalgo übrigens damit auch den E-Autos und den alternativen Antrieben eine klare Absage, denn sie benötigen den gleichen Platz wie Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren. Unabhängig vom Antrieb wird die Fahrt mit dem Auto in Paris, die langsamste Art sein voranzukommen.
In dem von Hidalgo geplanten Ambiente wird der Lieferverkehr wie in Asien auf deutlich kleinere Lastkarren oder Lastfahrräder umsatteln, die elektrisch angetrieben werden. Sobald das Radwegenetz entsprechend ausgebaut ist, werden die meisten Autos verschwinden. Hidalgo verspricht bis 2024 alle Diesel-Pkw zu verbannen, die Benziner werden 2030 folgen. Zugleich soll ein ganzes Bündel von Maßnahmen bis hin zu Tiefgaragen für Radfahrer das Biken attraktiver machen.
Kein Gegenprogramm
Das ambitionierte Programm von Hidalgo ist inzwischen Mainstream geworden. Ihre Gegenkandidaten sind in der Verkehrsfrage vielleicht nicht so entschlossen wie die Amtsinhaberin. Aber keiner kündigt an, ihre Maßnahmen rückgängig machen zu wollen. Ein "Pro Auto"-Programm wäre inzwischen politischer Selbstmord. So sehr haben sich die Zeiten in Paris geändert.
Quellen: Citymetric, Forbes
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