Kindergärten "Wir haben 30 Jahre verschlafen"

Zu wenig Plätze, Öffnungszeiten wie beim Ladenschlussgesetzt: Kindergärten sind eine Zumutung. Was fehlt, sind politischer Wille und mehr Geld.

Warmer Holzfußboden, große Fenster, die Richtung Süden zum Garten weisen - der neue Kindergarten ist vom Feinsten. Fünf Millionen Euro hat er gekostet. Tagsüber spielen hier fast 130 Ein- bis Zwölfjährige. Die Öffnungszeiten sind optimal auf die Arbeitszeiten der Eltern abgestimmt, die ihre Büros in unmittelbarer Nähe haben. Von solchen Bedingungen, wie die Angestellten und Abgeordneten des Bundestages in Berlin sie genießen, können Eltern im Rest der Republik nur träumen.

Andernorts sind die Plätze knapp, die Wartelisten lang, die Öffnungszeiten für berufstätige Eltern eine Zumutung. Besonders schlecht sieht es für die Kleinsten aus: "Für Kinder unter drei Jahren ist die Situation dramatisch, die Wartezeit für einen Krippenplatz beträgt mindestens zwölf Monate", sagt Dagmar Ströbel-Monzer, Leiterin der Beratungsagentur "Familienservice" in Stuttgart. Nur für drei von 100 Kindern unter drei Jahren gibt es im Westen einen Platz - am häufigsten noch in den Großstädten. Auf dem Land einen Krippenplatz zu bekommen ist so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto.

Kathrin Illes hatte kein Glück. Als ihre Zwillinge Jonas und Lukas im Mai 2000 zur Welt kamen, zog sie mit ihrem Freund in den Hamburger Speckgürtel nach Barsbüttel in Schleswig-Holstein. Zur Familienidylle fehlten nur noch zwei Krippenplätze. Doch die gab es in der Gemeinde nicht. Eine Nachbarin sprang als Tagesmutter ein. "Wir hatten ein Haus gekauft. Ich wollte und musste arbeiten - sonst wäre ich zum Sozialfall geworden", sagt die 33-jährige Kathrin Illes.

Die Arbeitswut der Mütter unterschätzt

Etwas besser sieht die Lage für Drei- bis Sechsjährige aus: Sie haben seit 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz - für vier Stunden am Tag. Doch für Kathrin Illes ist das keine Lösung: "Ich habe einen Fahrtweg von zwei Stunden zur Arbeit - hin und zurück, was soll ich da mit einem Vier-Stunden-Platz?" Sie hat deshalb gleich nach der Geburt vorgesorgt: Wenn Lukas und Jonas im Mai drei Jahre alt werden, kommen sie in einen Ganztageskindergarten. Der ist im Westen noch immer die Ausnahme: 80 Prozent aller Kinder werden nachmittags nach Hause geschickt. In Ostdeutschland sind fast alle Plätze für Kinder über drei ganztags - ein Überbleibsel der DDR.

Kinder haben in Deutschland keine Lobby. Politiker interessieren sich nur im Wahlkampf für sie, seit Jahrzehnten hat kaum eine Kommune in die Betreuung des Nachwuchses investiert; um den Rechtsanspruch für Drei- bis Sechsjährige zu erfüllen, wurden teure Ganztagesplätze für Krippenkinder einfach in günstigere Halbtagsplätze für die Größeren umgewandelt. Den Rest sollte der Geburtenknick erledigen. "Aber trotz weniger Kinder haben wir einen höheren Betreuungsbedarf", sagt Alexa Ahmad vom Frankfurter Familienservice. "Man hat die Arbeitswut der Mütter unterschätzt."

"Wir haben 30 Jahre verschlafen", gibt Bundesfamilienministerin Renate Schmidt zu. "Andere Länder in Europa haben rechtzeitig erkannt, dass die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es jemals gab, erwerbstätig sein will." In Zukunft will Rot-Grün jährlich 1,5 Milliarden Euro in Krippen und Tagesmütter investieren, damit 20 Prozent aller Kinder unter drei Jahren einen Platz bekommen. Ende 2004, verspricht Schmidt, geht’s los. Doch der Jubel über den Geldsegen bleibt aus. Denn die Mittel sollen nicht aus dem Bundeshaushalt kommen, sondern aus den Einsparungen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in den Kommunen. Streit ist programmiert: Denn viele Städte stehen am Rande des Ruins - da will sich keiner vorschreiben lassen, wie er das frei werdende Geld ausgeben soll.

Ausbau der Kindergärten lohnt sich

Petra Roth (CDU), Sprecherin des Deutschen Städtetags und Oberbürgermeisterin von Frankfurt, sagt: "Dass wir eine höhere Betreuungsquote brauchen, ist unbestritten. Am besten weiß man in den Städten, wie hoch jeweils der Bedarf ist. Bei uns in Frankfurt liegt er für Ein- bis Dreijährige bei 30 Prozent, wir bieten bereits 20 Prozent an. An manchen Orten in Hessen wird die Nachfrage geringer sein. Eine Quote für die Länder ist daher nicht sinnvoll."

So verwaltet jeder den Geldmangel auf seine Art: In München werden die Beiträge erhöht, in Berlin gibt es für die Kleinen weniger Erzieherinnen, und in Dresden wurden zum Jahreswechsel sämtliche Krippen- und Hortplätze gekündigt. Erst nach Klagen der Eltern nahm die Stadt die Regelung zurück. "Der Verdrängungskampf wird härter", beobachtet Alexa Ahmad in Frankfurt. "Kinderbetreuung ist ein Meilenstein dafür, dass sich die Gesellschaft in Arm und Reich teilt: Wer es sich leisten kann, der wird auch in Zukunft Kinderbetreuung kriegen."

Dabei ist ein Ausbau der Kindergärten kein Luxus, sondern rechnet sich: Laut Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) würden berufstätige Mütter bis zu 15 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich an Steuern bringen. Gleichzeitig könnte der Staat bis zu 1,5 Milliarden Euro Sozialhilfe sparen. Durch den Ausbau der Kitas würden bis zu 430.000 neue Jobs entstehen. Das Interesse ist da: 70 Prozent der Frauen im Westen und 90 Prozent im Osten würden gern arbeiten, wenn sie nur wüssten, wohin mit ihren Kindern, so das Ergebnis einer Studie des Bundesfamilienministeriums. Und die Wirtschaft braucht vor allem die gut ausgebildeten Frauen, denn durch den Geburtenknick werden spätestens ab 2010 die Fachkräfte knapp.

Wohnortwechsel gut überlegen

Doch das Problem ist nicht nur der Mangel an Plätzen, sondern auch die fehlende Flexibilität. Arbeitnehmer sollen rund um die Uhr verfügbar sein, mobil, kundenorientiert - viele Kindergärten sind es nicht. In Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen schließen einige immer noch von 12 bis 14 Uhr. Und wohin mit dem Kind, wenn die Kita Betriebsferien macht? Notfall-Kindergärten vom Familienservice, bei denen Eltern bis 20 Uhr abends anrufen und ihr Kind am nächsten Tag bringen können, gibt es bisher nur in ein paar Großstädten wie Frankfurt, Hamburg oder Berlin.

Die Vergabe der Plätze regelt jedes Bundesland nach anderen Kriterien - Familien wechseln deshalb besser nicht den Wohnort. Als Katrin Finger, 34, im März 2001 von Köln nach Berlin zog und beim Bezirksamt Köpenick nach einer Krippe für ihren Sohn Mariano, 2, fragte, erfuhr sie: "Da hätten Sie sich bis Februar anmelden müssen." Nur über Beziehungen fand sie noch einen Platz. "Aber eine Wahl hatte ich nicht", sagt die selbstständige Buchhalterin.

Viele Eltern sind froh, wenn sie überhaupt einen Platz bekommen. Viele ärgern sich über den schlechten Service und die hohen Gebühren. "Ein Studium ist umsonst, aber der Kindergarten kostet", sagt Paul Georg Hess. Für den Kindergarten seiner Söhne Jan, 4, und Paul, 6, zahlt er zusammen 550 Euro im Monat - zu viel, meint der Anwalt und klagt nun gegen das Hamburger Jugendamt. Doch an den hohen Kosten wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Bundesfamilienministerin Schmidt: "Kostenfreie Kindergärten sind für mich ein Fernziel. Fern heißt: Das werden wir sicher nicht in dieser Legislaturperiode diskutieren. Zuerst muss mal die Quantität erfüllt werden."

Die Mangelverwaltung muss ein Ende haben, fordert auch die Volkswirtin Katharina Spieß vom DIW: "Eltern sollen nicht länger als Bittsteller, sondern wie Kunden behandelt werden." Sie schlägt deshalb ein "GutscheinSystem" vor. Statt den Kitas Geld zu zahlen, sollen Eltern Gutscheine erhalten, die sie beim Kindergarten ihrer Wahl einlösen können. Dann, so die Idee, würden sich die Eltern den Kindergarten aussuchen, der besonders viel zu bieten hat. Die schlechten gingen leer aus. So weit die Theorie, die auch Ministerin Schmidt preist: "Gutscheine sind ein gutes Instrument, wenn es ausreichend Plätze gibt. Aber sie sind vollkommen falsch, wenn ich versuche, damit den Mangel zu steuern wie in Hamburg."

Unruhe in den Gruppen

In der Hansestadt werden zum 1. August "Kita-Gutscheine" eingeführt, ähnliche Ansätze gibt es in Berlin und Bremen. Das Problem in Hamburg: Es fehlen 18.000 Plätze. Die Eltern haben also keine Wahl, sondern müssen strenge Kriterien erfüllen, um überhaupt einen Gutschein zu ergattern. Priorität haben sozial auffällige Eltern, Arbeitslose, die wieder einen Job finden, und Ausländer. Erst dann kommen berufstätige Eltern und Alleinerziehende - und auch nur, wenn sie bereits einen Platz haben.

Wer eine Stelle sucht, geht leer aus - keine gute Voraussetzung für die Bewerbung. Und wenn Eltern ihren Job verlieren oder noch ein Kind bekommen und Elternzeit nehmen, werden die Kinder in Zukunft vor die Tür gesetzt. Heidrun Mildner, Leiterin des Hamburger Kindergartens "Murmel", fürchtet die Unruhe, die in den Gruppen entstehen wird. "Rein und wieder raus - so können wir keine sinnvolle pädagogische Arbeit machen", klagt sie. Die Gutschein-Initiative Hamburgs mag gut gemeint sein - gut gemacht ist sie nicht. Kann sie auch nicht, solange Deutschland keinen Platz für seine Kinder schafft. Heidrun Mildner sagt: "Es ist zu wenig Geld für Kinderbetreuung da - und alle wissen das."

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Catrin Boldebuck

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