Die neue EU-Verpackungsverordnung hat die in Deutschland bislang vorgeschriebenen Einheitsgrößen bei Grundnahrungsmitteln und anderen Produkten gekippt. So wiegt eine Tafel Schokolade demnächst womöglich nur noch 83 statt 100 Gramm - bei gleichem Preis. "Nun hat sich die Lobby der Lebensmittelindustrie endgültig durchgesetzt", sagt Silke Schwartau stern.de. Für die Hamburger Verbraucherschützerin kommt das Dekret der EU einer "Lizenz zum Mogeln" gleich.
Hintergrund: Die genormten Größen hatten auch den Sinn, Konsumenten direkte Vergleiche zu erleichtern. Doch künftig werden sie wieder genauer auf die Angaben am Regal achten müssen. Denn die Hersteller können nun völlig frei die Verpackungsmengen bestimmen. Verbraucherschützer befürchten ein "totales Preis-Wirrwarr".
Die Händler hingegen jubeln über die Liberalisierung: "Hier hat man eine überflüssige Vorschrift abgeschafft", sagt Hubertus Pellengahr vom Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE). So könne man jetzt bedarfsgerechte Verpackungen etwa für Singles oder ältere Menschen anbieten.
Der wahre Grund der Freude sei ein anderer, meint Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg: "Das neue EU-Recht werden Hersteller und Händler nutzen, um noch häufiger versteckte Preiserhöhungen vorzunehmen." Tatsächlich hat man diese Masche schon früher in Supermärkten beobachtet, seit Jahren sammeln die Verbraucherschützer Beispiele. Die Verpackungsordnung wurde in der Vergangenheit Schritt für Schritt aufgeweicht. "Das ist nun der letzte Schwung, und der betrifft die wichtigsten Produkte", schimpft Schwartau.
Gleicher Preis, weniger Inhalt: Warum dieser Trick so gut funktioniert, sei klar. Die Kunden seien "Gewohnheitstiere", erklärt die Verbraucherschützerin. Die meisten wüssten zwar genau, wie teuer zum Beispiel ein Glas Nutella ist. Aber den Grundpreis würden nur wenige kennen - eine Reduzierung der Menge falle da nicht weiter auf. So lange der Kaufpreis identisch bleibt, sei keine größere Empörung zu erwarten.
Vergeblich kämpft Schwartau seit Jahren dafür, deutlichere Grundpreisbezeichnungen im Supermarkt zur Vorschrift zu machen, damit die Kunden besser vergleichen können. Aber darauf legen Hersteller und Händler keinen Wert - und die Bundesregierung offenbar auch nicht. "Berlin hat die neue EU-Vordnung ohne großen Widerstand durchgewunken", sagt Schwartau.
Welche Produkte sind von der neuen Verordnung betroffen?
Bis vor kurzem gab es für bestimmte Produkte genormte Einheitsgrößen: Schokolade etwa konnte als 100-, 125-, 250-, 500- oder 1000-Gramm-Tafel angeboten werden - aber nicht mit 123 Gramm. Diese Vorschrift ist nun für Grundnahrungsmittel, Süßigkeiten, Konserven und Artikel für den täglichen Bedarf abgeschafft worden. Das betrifft zum Beispiel Milch, Kakao, Wasser, Limonade, Fruchtsäfte, Zucker, Mehl, Schokolade, Waschmittel und Reiniger.
Bei welchen Produkten gelten immer noch Einheitsgrößen?
Von der Flexibilisierung sind nur wenige Produktgruppen ausgenommen: Bei Wein, Sekt und Spirituosen bleiben die vorgeschriebenen Größen beispielsweise vorerst bestehen.
Was ist der offizielle Grund für die Flexibilisierung?
Offiziell wird die neue EU-Verordnung als "Entbürokratisierung" bezeichnet. Hersteller müssen nun weniger Vorgaben beachten und können auch "ausgefallene Verpackungen für ausgefallene Produkte" auf den Markt bringen, sagt Hubertus Pellengahr vom HDE. Man wolle sich stärker am Bedarf unterschiedlicher Zielgruppen wie zum Beispiel Singles ausrichten.
Außerdem galten in den EU-Staaten bei bestimmten Produkten zum Teil unterschiedliche Standardgrößen, so dass Unternehmen länderspezifische Verpackungen produzieren mussten. Nun können sie jede beliebige Größe europaweit verkaufen.
Welche Vorschriften bleiben bestehen?
Nach wie vor verboten sind "Luftverpackungen": Davon sprechen Verbraucherschützer, wenn der Inhalt verringert wird, aber keine Anpassung der Verpackung stattfindet. Falls Kunden so einen Fall bemerken, sollten sie ihn umgehend einer Verbraucherzentrale melden. Auch stern.de geht Ihren Hinweisen nach. Schreiben Sie einfach eine E-Mail an verbraucher@stern.de
Was raten Verbraucherschützer den Kunden?
Konsumenten sollten nun stärker denn je auf die Grundpreisangaben achten. Denn Verbraucherschützer glauben, dass versteckte Preiserhöhungen künftig häufiger über Mengenreduzierungen stattfinden. Wenn sich erst einmal völlig unterschiedliche Verpackungsgrößen durchgesetzt haben, ist ein Vergleich nur noch mit dem Taschenrechner möglich - oder über den Grundpreis.