Coronavirus-Pandemie In Brasilien steigen die Infektionszahlen rasant. Doch Präsident Bolsonaro fordert Lockerungen

Jair Bolsonaro (r) Präsident von Brasilien
Jair Bolsonaro (r) Präsident von Brasilien, der einen Mundschutz trägt, trägt ein Kind in einer Militärpolizistenuniform während eines Protests gegen den Obersten Gerichtshof und den brasilianischen Nationalkongress, um inmitten der Pandemie seine Kampagne zur Öffnung der Wirtschaft zu unterstützen.
© Andre Borges/AP / DPA
Während Europa die Pandemie langsam unter Kontrolle zu bekommen scheint, schlägt sie in Lateinamerika mit voller Kraft ein. Brasilien registriert die vierthöchste Anzahl Infizierter weltweit. Dennoch fordert Staatschef Bolsonaro Lockerungen gegen die "kleine Grippe", wie er sie nennt. 

Polizisten auf Motorrädern und in Streifenwagen bahnen sich ihren Weg durch die Menge auf der Strandpromenade in Copacabana. "Gehen Sie nach Hause!", schallt es aus den Lautsprechern. Doch die Menschen gehen an diesem sonnigen Samstag einfach weiter. Es ist – anders als in Deutschland und anderen europäischen Staaten, wo Tausende gegen Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen – eine ungewöhnliche Ruhe, die in Brasilien herrscht.

Dafür, dass das Land zuletzt bei den Neu-Infizierten und den Corona-Toten jeweils einen Negativrekord nach dem anderen vermeldet hat, scheinen die Menschen wenig besorgt zu sein. Sie hoffen, dass das Virus an ihnen vorübergeht. Das größte und mit 210 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas registrierte am Samstag 233.142 Infizierte – die vierthöchste Zahl weltweit. 

Bolsonaro ruft zu Versammlungen auf

Allein der brasilianische Bundesstaat São Paulo (4688) verzeichnet – wie Mexiko (mehr als 5000) – inzwischen mehr Todesfälle als China (4637). Wochen nach Europa trifft die Covid-19-Pandemie jetzt auch Lateinamerika mit voller Kraft, wo aber die Ausgangsbedingungen von vornherein schwieriger sind: Krankenhäuser sind unterfinanziert, Sozialsysteme schwach, die Volkswirtschaften kriseln.

"Und die Situation wird sich mit diesem Präsidenten noch verschlimmern", schimpft der Portier Filomeno in einem Mehrfamilienhaus in Copacabana im Gespräch mit der Deutschen-Presse-Agentur. Während etwa Argentiniens strenge Ausgangssperre gute Ergebnisse brachte – 8068 Menschen haben sich bislang nachweislich infiziert, 373 Patienten sind gestorben –, hält der Rechtspopulist Jair Bolsonaro nichts von Einschränkungen und ruft zu Versammlungen auf. 

Bolsonaro bezeichnet Coronavirus als "kleine Grippe"

Bolsonaro selbst hat sich unter Missachtung der Vorgaben zum Schutz vor dem neuartigen Coronavirus von Hunderten Anhängern feiern lassen. "Es ist sehr erfreulich, eine solche Demonstration der Unterstützung zu erleben, das stärkt uns", sagte er am Sonntag bei der Kundgebung vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasília. Bolsonaro wurde von mehreren Ministern begleitet und begrüßte die Demonstranten entgegen den Vorgaben zur sozialen Distanzierung aus der Nähe.

Der rechte Staatschef hatte am Wochenende erneut die von den Gouverneuren verhängten Corona-Beschränkungen in Brasilien kritisiert. Er fordert die Lockerung der Maßnahmen, weil diese seiner Meinung nach die Wirtschaft unverhältnismäßig stark belasten. Bolsonaro hatte die Pandemie als "kleine Grippe" bezeichnet. 

"Brasilien hätte eine der besten Antworten auf diese Pandemie haben können"

In Brasilien, einem Land mit kontinentalen Ausmaßen, haben Städte und Bundesstaaten jedoch eigene Maßnahmen erlassen. Selbst Rio ist geteilt in eine noch offene Südzone und eine Nordzone, in der die Stadt ein halbes Dutzend Viertel in den Lockdown versetzt hat.

Wie widersprüchlich und chaotisch Brasiliens Antwort auf Corona ist, zeigte sich am Freitag, als Gesundheitsminister Nelson Teich seinen Rücktritt erklärte – nicht einmal einen Monat, nachdem Bolsonaro seinen Vorgänger Luiz Henrique Mandetta wegen Unstimmigkeiten im Umgang mit dem Virus gefeuert hatte.

"Brasilien hätte eine der besten Antworten auf diese Pandemie haben können", sagte die Brasilianerin Marcia Castro, Gesundheitswissenschaftlerin an der Harvard University, der "New York Times". Brasilien war bei Gesundheitskrisen wie Aids oder Zika ein Vorreiter unter den Schwellenländern. "Aber jetzt ist alles unorganisiert, niemand arbeitet an gemeinsamen Lösungen." 

São Paulo kommt an seine Grenzen

Wie die britische BBC berichtet, sendet der Bürgermeister der Stadt São Paulo, Bruno Covas, einen Hilferuf: Das Gesundheitssystem könne zusammenbrechen, wenn die Nachfrage nach Notfallbetten für Coronavirus-Fälle steige. Covas sagte demnach, die öffentlichen Krankenhäuser der Stadt hätten eine Kapazität von 90 Prozent erreicht und könnten in zwei Wochen keinen Platz mehr haben.

Laut BBC ist Covas in Krisengesprächen mit dem Gouverneur über die Einführung eines strengen Lockdowns, um die Übertragung des Coronavirus zu verlangsamen. Wie der Sender weiter berichtet, wurden unter anderem Schulen und öffentliche Orte geschlossen, Menschen wurden gebeten, zu Hause zu bleiben. Es gebe aber nur geringe Strafen gegen Verstöße.

Besonders Armenviertel betroffen

Die Politik in Brasilien ist mehr mit sich beschäftigt als mit der Virus-Bekämpfung. Der Präsident hat mit dem Austausch von Ministern und einem Verfahren gegen sich zu tun. In Korruptionsermittlungen nahm die Bundespolizei in Rio mehrere Politiker und Unternehmer fest, die beim Kauf von Atemgeräten mehrere Millionen Euro veruntreut haben. Selbst in einer Pandemie nutzen sie die Gelegenheit, um sich unrechtmäßig zu bereichern. Die Bevölkerung schlägt sich irgendwie allein durch.

Corona war in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas zunächst das Virus der Reichen gewesen. Der erste registrierte Fall war ein Geschäftsmann aus São Paulo, der nach Norditalien gereist war. Mittlerweile hat sich Sars-CoV-2 immer weiter ausgebreitet, auch die ärmeren Viertel und Slums erreicht. In den ärmlichen Siedlungen – in Brasilien "Favelas" genannt – fehlt es den Bewohnern oft am Nötigsten wie Wasser und Seife, zugleich leben ganze Familien in einem Raum zusammen. Abstand halten ist da kaum möglich.

DPA · AFP
rw / Martina Farmbauer / Nick Kaiser / Denis Düttmann

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