"Es war einmal" – so beginnen zumeist unsere alten Märchen und leiten damit literarische Reisen in ferne, mythische Welten ein. Dort treiben normalerweise bösartige Hexen, Stiefmütter und Wölfe ihr Unwesen, während verwunschene Prinzessinnen auf den Auftritt ihrer strahlenden Helden warten, welche sie – wahlweise aus türlosen Türmen, gläsernen Särgen oder einem kollektiven Jahrhundertkoma – erlösen mögen. Zumeist lauert hinter den sieben Bergen aber immer dasselbe Ungeheuer: die Moral längst vergangener und gar nicht mal so fantastischer Zeiten.
Und doch haben die Geschichten, die oft auf vorchristliche Legenden zurückgehen, alle Zeitläufte überstanden. Wer weiß heute schon, dass die germanische Erd- und Himmelsgöttin Holla aus der Figur der Frau Holle hervorlugt oder die sieben Zwerge aus "Schneewittchen" die alten Wächterwesen eines heidnischen Totenreichs repräsentieren?
Ein schwuler Prinz und ein weibliches Rehkitz, das von einem Geweih träumt
Zuletzt haben es sich unterschiedliche Filmproduzenten und Regisseure immer wieder zur Aufgabe gemacht, die angestaubten Märchen moderner und zeitgemäßer zu erzählen. In den vergangenen Wochen sorgte die Ankündigung des Disney-Konzerns für Aufsehen, die Neuverfilmung der "Schneewittchen"-Saga mit einer lateinamerikanischen Schauspielerin zu besetzen. Trotz aller wohlmeinenden Vorsätze sah man sich der harschen Kritik des kleinwüchsigen Hollywoodschauspielers Peter Dinklage ausgesetzt. "Ihr seid auf eine Weise fortschrittlich, aber dann macht ihr immer noch diese verdammte rückständige Geschichte über sieben Zwerge, die zusammen in einer Höhle leben – was zum Teufel macht ihr da?", formulierte der Star aus "Game Of Thrones" zornig in einem Podcast-Gespräch.
Plötzlich sind Märchen und die Art, wie wir sie erzählen, etwas, das man ihnen eigentlich nicht zugetraut hatte: hochpolitisch.
Als im September 2020 der Verein Labrisz Lesbian Association in Ungarn die Märchen-Anthologie "Meseország mindenkié" ("Märchenland für alle") veröffentlichte, ahnte noch keiner der Verantwortlichen, was daraus entstehen würde. "Uns ging es allein darum, marginalisierte Gruppen in Märchen auftauchen zu lassen", sagt Boldizsár Nagy, der die Geschichten mehrerer Autoren ausgewählt und zusammengestellt hat.

Obwohl es darin um Charaktere mit ganz unterschiedlichen Schicksalen geht, etwa solche mit Behinderungen (einem Häschen mit drei Ohren), Heldinnen und Helden, die ethnischen Minderheiten entstammen (wie den Roma und Rominja), mal adoptiert oder in sozial prekären Verhältnissen leben, stießen sich Vertreter rechter Parteien vor allem an zwei schwulen Prinzen – und einem weiblichen Rehkitz, das gern ein Geweih hätte und von einer Fee eines aus Zweigen bekommt.
Ungarn stimmt ab: Sollte Diversität in Schulen thematisiert werden?
Die rechtsextreme Parlamentsabgeordnete Dóra Dúró meinte darin einen "Angriff auf die ungarische Kultur" auszumachen und schredderte das Kinderbüchlein öffentlich auf einer Pressekonferenz. Die Autoren sehen sich seitdem zahllosen Angriffen ausgesetzt. "Manche von ihnen sind nicht einmal Teil der LGBT*-Community oder einer der anderen Minderheiten und waren auf die Bedrohungen nicht vorbereitet", erzählt Nagy. "Eine der Autorinnen arbeitet als Lehrerin und wurde als pädophil beschimpft", beklagt er. "Sie kann damit nur sehr schwer umgehen."

Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef Viktor Orbán brachte vergangenes Jahr ein Anti-LGBT*-Gesetz auf den Weg, das zynischerweise als "Kinderschutzgesetz" bezeichnet wird. Am 3. April stellt Orbán nicht nur sich und seine Politik, sondern auch jenes Gesetz in einem Referendum zur Wahl. "Sind Sie damit einverstanden, dass die sexuelle Orientierung ohne Genehmigung der Eltern in öffentlichen Bildungseinrichtungen thematisiert wird?", lautet etwa eine Frage darin oder: "Unterstützen Sie, dass für Geschlechtsumwandlungsoperationen bei Kindern geworben werden darf?" Formulierungen, die bewusst und ohne jeglichen Anlass Ängste schüren.
"Es wird so getan, als würden wir dafür eintreten, dass Kinder zwangsweise im Kindergarten mit Themen wie Geschlechtsumwandlungen konfrontiert werden, auch wenn die Eltern das nicht möchten", sagt Nagy. "Niemand ist dazu verpflichtet, unser Buch zu kaufen oder zu lesen."
Kindern lehren was normal ist
Dem "Märchenland für alle" bescherte die Kriegserklärung der ungarischen Regierungsparteien einen Höhenflug, zeitweise stand es sogar auf Platz eins der ungarischen Bestsellerlisten. Nachdem der stern im vergangenen Juli über die politische Situation in Ungarn berichtet hatte, entschloss sich die Redaktion dazu, das Buch auf den deutschsprachigen Markt zu bringen und den ungarischen Aktivisten damit Solidarität und auch finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.

"Denn es ist gut, nicht der Norm zu entsprechen", schreibt stern-Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier im Vorwort. "Es ist gut, anders und vielfältig zu sein. Es sollte für jeden Menschen selbstverständlich sein, das eigene, authentische ,Ich‘ leben zu können, ohne sich zu verstellen." Es lohne sich, für dieses Verständnis zu kämpfen und früh damit zu beginnen. "Kinder sind unvoreingenommen. Sie hören zu und nehmen auf. Daher ist es wichtig, ihnen gegenüber nicht darauf hinzuweisen, was besonders ist, sondern wiederzugeben, was normal ist."

Bereits im Vorfeld durfte die Redaktion ermunternde Reaktionen einsammeln. "Ich finde es sehr wichtig, Identifikationsfiguren zu schaffen, die vielseitig sind", schreibt TV-Star Riccardo Simonetti, der selbst ein Kinderbuch geschrieben hat und zeitweise dem Europäischen Parlament als LGBTQI*-Sonderbotschafter diente. "Ein Märchen zu lesen, in dem sich zwei Prinzen verlieben, wie das hier der Fall ist", hätte ihm als Kind viel Mut zugesprochen.
"Ich bin der Überzeugung, dass Liebe nur in Vollzeit geht", formuliert Modedesigner Guido Maria Kretschmer. "Man muss das früh lernen. Wer klein ist, grenzt nicht aus. Man darf eine Gesellschaft nicht reglementieren. Jeder kann alles sein, Kinder wissen das. Wir dürfen nicht verlernen, dass alles möglich ist. Wie im Märchen."
Comedienne Caroline Kebekus schrieb: "Eine Prinzessin, die mehr kann, als wunderschön zu sein und einfach nur darauf zu warten, von einem Prinzen gerettet zu werden, sondern sich selbst aus ihrem Schlamassel holt – darauf habe ich wirklich sehr lange gewartet!" Manchmal werden Märchen eben doch wahr.
Fast muss man den Gegnern danken
Das Buchprojekt hat inzwischen einen Siegeszug durch weitere europäische Länder angetreten, wurde in zehn Sprachen übersetzt. Selbst in Ungarn glauben die Initiatoren eine Veränderung zu ihren Gunsten wahrzunehmen. "Wir merken, dass die Wortwahl der Gegner nicht ganz so harsch ausfällt wie noch vor einigen Monaten", sagt Boldizsár Nagy, der selbst schwul ist und der Volksgruppe der Roma angehört.

Durch die vielen Diskussionen in den vergangenen Monaten sei eine "große Solidarität, nicht nur innerhalb der LGBT*-Community, sondern unter den verschiedenen Minderheiten entstanden", so Nagy. "Wir haben lange darauf gewartet, dass die Belange von diskriminierten Gruppen in den Vordergrund treten und der Öffentlichkeit bewusst werden. Plötzlich dürfen wir an öffentlichen Debatten teilnehmen, die es so gar nicht gegeben hätte." Fast müsse man den Gegnern des Projekts dankbar sein, ohne deren Kampagne solche Veränderungen wohl kaum möglich gewesen wären.
Es war einmal ein kleines Buch, das unscheinbar die Welt erblickte und den Kampf gegen übermächtig wirkende Widersacher bestehen sollte. Ein schönes Ende, das recht sicher auch ein neuer Anfang ist.
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