Samstagabend. Ich fahre mit dem Fahrrad durch Hamburg-Eimsbüttel. Entlang an den behangenen Bars und Kneipen, die wacker gegen die allgemeine EM-Unstimmung anflaggen. Plötzlich dringt Jubel aus den Wirtschaften und Wettbüros.
Menschen feiern. Als das erste Geschrei sich gelegt hat, halte ich mit dem Rad an der Bar Rossi, blicke von außen rein, auf den Bildschirm, um zu schauen, was da wohl passiert sein mag.
Es steht immer noch null zu null – und ich begreife: Gerade eben muss Cristiano Ronaldo einen Elfer verschossen haben.
Eine Szene, die viel aussagt über ein Turnier, in dem das Versagen eines Einzelnen mehr gefeiert wird, als spektakulärer Fußball. Wo ein gelernter Tor-Verhinderer wie Jerome Boateng durch spektakuläre Destruktion zum nationalen Helden aufsteigt, ist offensichtlich nicht allzu viel Euphorisierendes in der Offensive los.
Die EM ist – ich versuche, das jetzt mal diplomatisch auszudrücken- ein ausgesprochenes Kackturnier (schade, aber ich hab´s versucht). Und das nicht nur aus der Sicht des Schland-Supporters, der mitansehen muss, dass die sturmlahme DFB-Elf derzeit in etwa so viele Abschlüsse hat wie das Ensemble von "Berlin Tag & Nacht".
Ich will diesen Event mögen, aber ich schaffe es nicht.
Ich bin zerrissen wie ein Schweizer Trikot.
Sicher, die Organisatoren versuchen, die Euro 2016, dieses Marketing-Event mit allerlei Zinnober (endlich konnte ich´s mal schreiben) und musicalesken Performances zu lamettieren, aber am Ende ist diese Leistungsschau bislang so, wie die Spielerfrauen auf der Tribüne: Schwer aufgetakelt, kamerageil – aber es fehlt das Herz.
Es langweilt.
Sportlich gesehen hat dieser Wettbewerb nicht nur nichts Neues zu bieten- er ist sogar ein Rückschritt.
Einziges Highlight: Sniffmaster Löw
Es war zwar eine nette Geste gegenüber den vermeintlich kleinen Nationen, das Teilnehmerfeld von 16 auf 24 aufzustocken. Da aber sogar die vier besten Gruppen-Dritten weiter kommen, ist das wie eine Einladung gewesen, sich ins Achtelfinale zu mauern. Und genau so laufen dann auch viele Spiele, in denen statistisch gesehen nicht mal zwei Tore fallen. Und wenn, dann gegen Ende quälend langatmiger Partien, wenn der – zumeist schwächeren – Mannschaft die Puste ausgeht.
Wenn ich was sehen will, wo ich mir die ersten 88 Minuten sparen kann, dann gucke ich den Tatort.
Sind wir doch ehrlich. Das einzige Highlight war bislang der deutsche Nationaltrainer, der in Sachen Außendarstellung ein etwas unglückliches Händchen bewiesen hat. Eifrig wie ein Raststättenautomaten-Greifarm nestelte Löw sich in der Buxe herum, nur, um später vor einem Millionen-Publikum das Klöten-Bouquet zu erschnuppern.
Der Sniffmaster ging um die Welt und ist im Youtube-Ranking wie auch olfaktorisch schon dicht dran am niesenden Panda-Baby. Für Nivea war der Abend natürlich das ganz eigene 1:7- und Jogi seinen Job als Testiclemonial wohl los.
Dabei finde ich es ganz sympathisch zu sehen, dass jemand ganz konträr zum allgemeinen Trend zur Selbstinszenierung – ja, auch an der Seitenlinie - offensichtlich ganz mit den Gedanken beim Spiel ist. In Spielerkreisen hat die testosteronschwangere Geste sicher nicht geschadet. Es macht den Gecremten männlich. Und (höhlen)menschlich.
Ähnlich wie der viel belachte Hass-Ken, Cristiano Ronaldo, der im Spiel zwar nur die "Stange!!!" (österreichischer Kommentatoren- O- Ton) traf, sich dafür aber nach Spielende nahbar gab, und sich sehr viel Zeit nahm, ein Selfie mit einem technisch überforderten Flitzer zu machen.
Missgünstige Menschen behaupten zwar, Ronaldo würde sogar mit Kim Jong Un ein Selfie machen, solange nur ein weiteres Foto von ihm existiert, aber das ist mir zu billig.
Sollte es übrigens tatsächlich so sein, dass der Ordner, der den Flitzer vom Feld geführt hatte, anschließend das Foto vom Handy des bedauernswerten Fans gelöscht hat, ist dieser Sicherheitsmensch der mieseste Typ der Welt. Und umgehend zu bestrafen. Zum Beispiel mit drei Partien Island gegen ... irgendwen.
Island? Ernsthaft?!
Wut auf Pyro-Vollidtioten
Dass wir alle so sehr zu den Isländern halten, ist unserer Ablehnung gegenüber dem Establishment geschuldet, weniger unserer Wertschätzung für guten Sport. Den kriegen wir von den Insulanern nicht wirklich geboten. Stattdessen fußballerisches Graubrot und Schwalben, die man Ronaldo um die Ohren gehauen hätte. Rumpelfußball, so 90er, dass die Spiele eigentlich von Olli Geissen kommentiert werden müssten
Sich das anzusehen, ist ein verdammt hoher Preis für einen Rocky Balboa-Moment im Spitzensport. Unsere tiefe Sehnsucht nach dem guten, alten Sport. Dem unrasierten, verschwitzten, verrotzten, "ehrlichen" Gerumpel. Früher war alles breitner.
Bei vielen bricht sie sich Bahn in dem leidenschaftlichen Hass auf Ronaldo. Dem perfekten Repräsentanten des modernen, merchandisierten High End- Rasen-Business, das uns so abstößt. Ein Typ, der viel zu poliert, zu stromlinienförmig, ja, zu professionell daherkommt. Der iKicker.
CR7 - das klingt ja schon nach Supersportwagen!
Messi ist wenigstens ein Zwerg.
Das Scheitern (z.B. am Pfosten) des Gemeißelten – ein kollektives Erleichterungserlebnis.
Die Geschichte vom gelackten Portugiesen, der dem unterklassigen Isländer als Vertreter der Unterschicht dann auch noch das Trikot verweigert, passt ins Bild. Ist aber völlig frei erfunden.
"Cristiano Ronaldo hat mich nicht gefragt wer ich bin. Er ist nicht so ein arroganter Typ wie alle es behaupten, auch wenn ich ihn nicht besonders gut kenne. Er sagte mir er gibt mir das Trikot drinnen und er hat es auch getan. Man darf nicht den Medien glauben, denn sie wollen immer nur für Furore sorgen."
(Aron Gunnarsson)
Diese EM, wenn sie nicht durch zu viel Plastik langweilt, ist sie bislang ein omnipotentes Ärgernis. Lediglich die Wut reißt einen dann und wann aus der Lethargie.
Zum Beispiel auf russische Vollzeit-Idioten, die den Wettbewerb als eine Art Auf-die-Fresse-hau-Event nutzen und, anstatt sich einfach nur mit Fäusten gegenseitig das Resthirn zu pürieren, auch noch Unbeteiligte mit rein ziehen. Dankenswerterweise sorgen die nationalen Fußballer selbst für eine vorzeitige Abreise der Russen von der EM.
Da ist die Wut auf kroatische Idioten, die mit Pyro hantieren, so dass auf dem Rasen einem Ordner das Ding im Gesicht explodiert. Und die bange wie berechtigte Frage: Wenn die Security noch nicht einmal in der Lage ist, ein paar Primaten vorm Stadion die Böller abzunehmen wie genau wollen die dann gleich nochmal für Sicherheit vor IS-Terroristen schützen?
Mehr befremdlich als ärgerlich auch die Masse an intellektuellen Stehpinklern, die gerade wütend durch die Kommentarspalten der ZDF-Homepage trumpen ("diese schlampe brauch einfach nur ein pimmel"), weil man es gewagt hatte, mit Claudia Neumann auch eine Frau diverse Fußballspiele kommentieren zu lassen.
Na, also, da knallt einem ja gleich ne Fliese aus dem Couchtisch! Wo gibt es denn sowas!
Es sind höchstwahrscheinlich dieselben, die nach der Kölner Silvesternacht so leidenschaftlich für Frauenrechte eingetreten sind.
Wo ist Peter Alexander, wenn man ihn braucht?
Und was um alles in der Welt ist das für ein EM-Song von Grönemeyer und Jaehn? Pflegestufe 4 zum Hören! Betreutes Bouncen. Die Blutgrätsche für's Ohr.
Wo ist Peter Alexander, wenn man ihn braucht?
Wem all das noch nicht reicht, um die Europameisterschaft geflissentlich zu ignorieren, dem sei wärmstens "Beckmanns Sporthochschule" empfohlen. Ein Fußballtalk, der irgendwie alles anders machen will – und sehr eindrucksvoll beweist, warum die erfolgreicheren Formate dieser Art wiederum ihrerseits alles anders machen. Spätestens wenn Du Dir als Zuschauer Waldis Club zurück wünschst, weißt Du, Du hast ein Problem.
Übrigens auch dann, wenn Du plötzlich feststellst: Scheiße, ich mag die Italiener! Schlimmer noch: Die Engländer sind mir auch sympathisch! Hilfe. Schlimmer konnte es kaum kommen.
Wobei, doch: Michael Ballack hat sich zu Wort gemeldet und mit seiner Kritik an den vermeintlich zu persönlichkeitsarmen Nationalkickern einen Klassiker hervorgeholt. Der pünktlich alle zwei Jahre wie ein Sommerloch – Tier aus irgendeinem Baggerloch sein schäbig-verschlammtes Haupt reckt: Die gute, alte Führungsspieler- Debatte.
Gut, ein Michael Ballack hat selbstverständlich jedes Recht, dem WM-Sieger von 2014 die Titelfähigkeit abzusprechen. Schließlich sind wir mit ihm als Kapitän damals Welt- und Europameister ... halt, nein, warten Sie.
Okay, es ist nicht alles schlecht an dieser EM. Ohne die Schminktipps von Journalismus-Legende Cathy Hummels wäre ich vor dem Polen- Spiel um ein Haar ohne Smokey Eyes zum Grillfest gegangen, aber sonst? Wir machen uns was vor.
Nicht mal echte Angst vor dem Ausscheiden ist noch zu spüren.
Wir sind Schland-Zombies
Viele haben bereits abgeflaggt, und wir schwenken bemüht mit schweren Armen Fahnen, rotten uns zusammen, erheben uns, sacken wieder herab, versuchen uns in diesen Wettbewerb hinein zu euphorisieren, aber wenn wir ehrlich sind, tun wir das mit der mechanischen Lustlosigkeit eines Porno-Veteranen.
Da ist nichts. Nur leeres, stumpfes Absitzen der Spiele. Eine Özilerei. Aus toten Augen.
Wir sind Schland-Zombies.
Schlombies.
Die Nordiren zumindest feiern einen Drittliga-Spieler ohne eine Sekunde Einsatzzeit als Helden und machen "Will Grigg´s on fire" zum inoffiziellen EM-Hit. Es ist eine Sehnsuchts-Hymne der Verzweiflung. Inmitten eines Wettbewerbs, von dem wir uns innerlich bereits abgewandt haben.
Für mich ist dieses unwürdige Theater beendet.
Macht ohne mich weiter. Am Dienstag gucke ich Frauke Ludowig.*
*Im Falle eines EM-Sieges der Deutschen ignorieren Sie diesen Text bitte.