Fünf Tage nach dem Untergang der "Moskwa" ist weiterhin unklar, was genau mit der Besatzung des Schiffes passiert ist. Russland beharrt bereits am Donnerstag kurz nach dem Unglück darauf, dass die Besatzung des Schiffes vollständig evakuiert worden sei. Am Freitag veröffentlichte das Verteidigungsministerium ein Video, das die Besatzung in Sewastopol, der Heimat der Schwarzmeerflotte auf der Krim-Halbinsel, zeigen soll. Allerdings: Auf dem Video sind nur rund 100 Seeleute zu sehen, die Besatzung der "Moskwa" besteht jedoch aus mehr als 500 Mann. Auch das Bild der schwer getroffenen "Moskwa", das am Montag im Internet verbreitet wurde, lässt erhebliche Zweifel an der russischen Darstellung aufkommen.
Trotz möglicher Konsequenzen und Vergeltungsmaßnahmen durch die russische Regierung suchen auch immer mehr Eltern nach ihren Söhnen – und bekommen zum Teil die Nachricht, die sie nicht hören wollen. Julia Tsyvova hatte mehrere Tage vergeblich nach Informationen über ihren Sohn Andrej gesucht, ehe sie am Montag die Nachricht vom Verteidigungsministerium erhielt: ihr Sohn ist tot. "Er war erst 19 Jahre alt und Wehrpflichtiger", erklärte Tsyvova gegenüber dem "Guardian". Das Verteidigungsministerium habe ihr sonst nichts mitgeteilt – nicht mal, wann die Beerdigung sein werde.
"Moskwa": Zeitung berichtet von mindestens 37 Todesfällen
So wie ihr, geht es mehreren russischen Familien. Das im lettischen Riga sitzende russische Exilmedium "Meduza" schrieb am Montagabend von mindestens 37 toten Seemännern auf der "Moskwa". Die Zahlen decken sich mit einem Bericht der "Novaya Gazeta Europa", einer unabhängigen russischen Zeitung, die ihre Arbeit in Russland Ende März einstellen musste und nun eine englischsprachige Seite betreibt.
Eine Mutter berichtete gegenüber dem Medium, dass ihr Sohn, der auf dem Schiff ebenfalls als Wehrpflichtiger im Einsatz ist, von "rund 40 Toten" berichtet hätte. Es habe viele Verletzte gegeben, durch die Explosionen seien ihnen die Gliedmaßen abgerissen worden. "Als mein Sohn mich anrief, hat er geweint. Er sagte mir: ‚Mama, ich hätte nie gedacht, dass ich in so einem Blutbad enden werde. Ich dachte, dass wir in relativ friedlichen Zeiten leben würden", erzählte die Mutter. Ihr Sohn habe nicht ins Detail gehen wollen, so schrecklich seien die Bilder gewesen, die er gesehen habe.
Auch sie habe bislang keinerlei Details erfahren, auch weil in den russischen Medien nicht über die "Moskwa" berichtet wird. "Unser Verteidigungsministerium will die Niederlage und die ukrainische Attacke nicht eingestehen. Sie wollen nicht eingestehen, dass ein Schiff dieser Klasse gesunken ist", warf die Mutter der Regierung vor. Von russischer Seite heißt es, dass es an Bord des Schiffes zu einem Unfall gekommen sei, bei dem Munition explodiert war. Das Schiff sei später in einem Sturm gesunken – Wetterexperten verwiesen jedoch schon am Donnerstag darauf, dass es in der betreffenden Region gar keinen Sturm gegeben habe.
Dass es mehr Tote geben könnte, darauf verweisen ungenannte Quellen gegenüber "Meduza". Demnach habe es rund 100 Verletzte gegeben und viele Seeleute seien über Bord gegangen und würden noch vermisst. Darunter auch der Sohn von Dmitry Skhrebets, der seiner Wut auf die russische Regierung im Netzwerk VKontakte freien Lauf ließ. Er sei darüber informiert worden, dass sein Sohn Igor, der ebenfalls als Wehrpflichtiger an Bord der "Moskwa" war, nicht Tod sei, aber vermisst werde. "Wie kann man denn mitten auf der hohen See als vermisst gelten?", fragte ein ungläubiger Skhrebets in dem Netzwerk und erhob schwere Vorwürfe gegen die russische Regierung. "Sie haben gesagt, dass die ganze Crew evakuiert wurde. Das ist eine grausame und zynische Lüge!"
Skhrebets war mit seiner Frau Irina extra nach Sewastopol gereist, um in einem Krankenhaus unter den Verletzten nach seinem Sohn zu suchen. "Wir haben uns jedes verbrannte Kind angesehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schlimm das ist, aber wir haben unseren Sohn nicht gefunden", sagte Irina Skhrebets gegenüber der russischen Internetzeitung "The Insider". In dem Krankenhaus seien nur 200 Leute gewesen, an Bord des Schiffes aber über 500. "Wo sind die anderen?", fragte die Mutter. Sie hätten auch in Krasnodar und anderen Krankenhäusern gesucht, aber ihren Sohn nicht gefunden.
Russland schickt erneut Wehrpflichtige in den Einsatz
Der Verlust der "Moskwa" und der Soldaten wirft auch erneut ein dunkles Licht auf Wladimir Putin und seine Führungskräfte im Kreml. Bereits Anfang März musste das russische Verteidigungsministerium eingestehen, dass Wehrpflichtige im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow kündigte in der Folge an, dass man die Fälle untersuchen und die Verantwortlichen bestrafen wolle. Die meisten der Wehrpflichtigen seien wieder zurück in Russland. Die Entsendung weiterer Rekruten sollte mit allen Mitteln verhindert werden.
Dass es nun auch an dieser Aussage Zweifel gibt, zeigen die Verluste auf der "Moskwa". Zwar gibt es keinerlei offiziell zugängliches Verzeichnis über die Besatzung des Schiffes, doch scheint es auf dem Schiff noch mehr Wehrpflichtige gegeben zu haben. "Wir wurden von Familien aus Alupka, St. Petersburg und Jalta kontaktiert, deren Söhne ebenfalls als Wehrpflichtige auf der ‚Moskwa‘ stationiert waren und vermisst werden", schrieb Dmitry Skhrebets am Montag auf VKontakte. Auch Eskender Djeparovs Bruder Akbar war auf der "Moskwa" als Wehrpflichtiger stationiert. Im Gegensatz zu den anderen Familien aber erkannte er seinen Bruder auf dem Video, das das Verteidigungsministerium am Freitag veröffentlichte. "Er hat vergangenen Juli seinen Wehrdienst begonnen und definitiv keinen Vertrag als Soldat unterschrieben", sagte Djeparov dem "Guardian".
Quellen: Guardian, Meduza, Novaya Gazeta Europe, The Insider, ntv,