Schon lange verlangt Kiew nach Panzern westlicher Bauart. Bislang vergeblich. In Deutschland steht vor allem das Nein aus dem Kanzleramt in der Kritik, doch haben bisher alle Nato-Staaten weder Kampfpanzer (MBT – Main Battle Tank) noch Schützenpanzer (IFV Infantry Fighting Vehicle) westlicher Bauart geliefert. Für den Laien ist das verwirrend. Die gleichen Waffengattungen mit Ursprüngen im Warschauer Pakt wurden Kiew sehr wohl zur Verfügung gestellt. Und auf den ersten Blick ist der Unterschied zwischen einem Schützenpanzer und einem gepanzerten Mannschaftstransporter (APC) gering. Abgesehen davon sind die Panzerhaubitzen, die der Westen liefert, nicht nur eindrucksvoller anzusehen als ein Schützenpanzer, ihre Zerstörungswirkung ist auch weit größer.
Jetzt hat die Nein-Front des Westens zwei große Risse bekommen. Die USA erwägen, den Schützenpanzer Bradley zu liefern, und Frankreich sagte bereits zu, den leichten Spähpanzer AMX-10 RC der Ukraine zur Verfügung zu stellen.

Kleiner Spähpanzer mit schwerer Bewaffnung
Der AMX-10 RC ist eine Kreuzung aus einem Schützenpanzer und einem Kampfpanzer. Auf Wanne und Fahrgestell eines IFV wurde ein anderer Turm verbaut. Anstatt der üblichen Maschinenkanonen wurde eine Kampfwagenkanone in relativ schwerem Kaliber montiert. Die BK-MECA-L/48 nutzt das alte Nato-Kaliber 105 mm – so wie der Leopard 1. Der AMX mit 48-facher Kaliberlänge des Laufes, der Leopard nutzt die 51-fache Länge. Das Kunststück dabei: Der ganze AMX-10 wiegt inklusive der Hauptwaffe keine 15 Tonnen.
Zeitlich entstammt der AMX-10 RC den 1970er-Jahren – so wie der deutsche Schützenpanzer Marder –, folgt aber einer anderen Philosophie. Beim französischen Modell handelt es sich um einen Radpanzer, der Marder wird von Ketten bewegt. Leichte Radpanzer galten damals als zu leicht gepanzert, um den Truppen des Warschauer Paktes in der Norddeutschen Tiefebene entgegentreten zu können, sind aber technisch wesentlich robuster und beweglicher als Kettenfahrzeuge. Ein Vorteil, den unter anderem Frankreich und England in den Kriegen der ausgehenden Kolonialära zu schätzen lernten. Heute folgt etwa der deutsche Radpanzer Boxer dieser Philosophie. Das Modell "kleines Fahrzeug mit großer Kampfwagenkanone" wurde dagegen von Rheinmetall beim Schützenpanzer Lynx unlängst vorgestellt. "Vorbild" der Gattung ist der Radspähpanzer Sd. Kfz. 234 der ehemaligen deutschen Wehrmacht, auch er wurde teilweise mit einer schweren Kanone ausgerüstet (7,5-cm-PaK 40 L/46).
Wie der Marder in Deutschland ist auch der AMX-10 RC in modernisierter Form in Frankreich noch im Dienst, doch auf dem Weg in den Ruhestand. Insgesamt wurden über 300 Stück gebaut, über 250 der Kampfwertsteigerung RC unterworfen. Den politischen Willen vorausgesetzt, könnte Frankreich also eine größere Zahl an Fahrzeugen liefern, inklusive Munition. Ersatzteile sollten kein Problem sein, wenn man bereit ist, weitere Fahrzeuge auszuschlachten.
Kein Gamechanger
Der Kampfwert des kleinen Panzers ist schwer zu beurteilen: Es kommt auf den Einsatz an. Als "Jagdpanzer" kann man ihn heute kaum verwenden. Tragbare Antipanzerraketen werden den großen Kampfpanzern wesentlich gefährlicher als die 105-mm-Kanone. Sie kann die Frontpanzerung der russischen T-Modelle nicht durchschlagen. Zur Infanterieunterstützung ist der AMX-10 RC brauchbar. Im direkten Feuer haben die Einzelschüsse der Panzerkanone zwar eine geringere Wirkung als etwa eine Zwillingsmaschinenkanone. Dafür ist es möglich, den Spähpanzer in einer Artillerierolle zu nutzen. Als fahrbare Feldkanone, deren indirektes Feuer von Drohnen dirigiert wird. In der Ukraine bietet sich folgendes Szenario an. Die beweglichen Spähpanzer eignen sich viel besser als Kettenfahrzeuge dazu, Durchbrüche auszunutzen und schnell im Hinterland des Gegners zuzuschlagen. Das Youtube-Video der französischen Streitkräfte zeigt die Beweglichkeit des Mini-Panzers.
Kurzum: Beim AMX-10 RC handelt es sich um keine "Wunderwaffe", die Kiew große Optionen eröffnet. Das spricht aber keineswegs gegen ihn. Kiew benötigt nicht nur "Gamechanger", sondern auch ganz normales Kriegsmaterial. Die Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte schmilzt in diesem Krieg dahin – wenn der Blick im Westen auch vorrangig auf den russischen und nicht auf den ukrainischen Verlusten verweilt. Also muss ununterbrochen normale Ausrüstung zugeführt werden.
Auch wenn der AMX-10 RC technisch keine Superwaffe ist, ist die politische Bedeutung enorm. Der kleine Spähpanzer ist der Dammbruch in der Nein-Front der Nato-Staaten in Bezug auf Schützenpanzer und Kampfpanzer westlicher Bauart. Es ist gewiss kein Zufall, dass vor etwa 14 Tagen die Gerüchte über die Lieferung des US-Bradleys auftauchten. Und auch nicht, dass an dem Tag, an dem US-Präsident Biden bestätigt, dass er die Lieferung des Schützenpanzers erwägt, Macron den AMX-10 zusagt.
Wie ist das zu bewerten?
Die Nato handelt hier gemeinsam – unter der Führung des größten Verbündeten, den USA. Nur so kann das Bündnis handlungsfähig sein. Entscheidet sich Washington, den Bradley zur Verfügung zu stellen, wird Berlin mit dem Marder nachziehen. Neben dem Schützenpanzer werden alsbald Kampfpanzer entsandt.
Dem Westen bleibt auch gar nichts anderes übrig. Im Sommer 2022 wurden die Verluste der Ukraine vor allem mit Material östlicher Bauart wieder aufgefüllt – garniert mit ausgesuchten Systemen in kleiner Anzahl wie den Himars, der Panzerhaubitze 2000 oder der französischen Caesar. Dazu einige, wenn auch sehr moderne Luftabwehrsysteme. Doch 2023 wird man dieses Modell nicht mehr fortführen können, denn noch einmal wird man in den Magazinen der Verbündeten nicht 300 T-72-Panzer zusammenkratzen können.

Keine andere Option für den Westen
Wie bei allen Lieferungen gehen die USA nach einer Salamitaktik vor: Langsam und unmerklich wird die Dosis erhöht, man vermeidet den großen Aufschlag, um keine Eskalation mit Russland zu provozieren. In dieses Bild passt es, dass Macron mit einer nicht genannten Anzahl des exotischen Spähpanzers vorangeht und Biden eben nicht mit der Lieferung von 1000 Bradleys auftrumpft.
Wahrscheinlich ist dieses Szenario: Frankreich und die USA liefern einen Spähpanzer und Schützenpanzer. Daran werden sich weitere Verbündete anschließen und IFV liefern. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Kampfpanzer geliefert werden. Fraglich ist derzeit, ob es gelingen kann, schnell genug weltweit größere Mengen an T-72 zusammenzukaufen. Vielleicht nicht die neuesten Modelle, sondern getreu der Salamitaktik zunächst Oldies wie den Leopard 1, Challenger I oder den M60.
Der Westen hat keine andere Wahl. Wenn der Krieg 2023 andauert, was derzeit niemand bezweifelt, muss der Westen westliche Systeme liefern, oder die Ukraine steht im Frühjahr ohne Panzerfahrzeuge da. Die große Wende muss das nicht bringen. Mit diesen Lieferungen wird nur der Status quo erhalten.
Auf einem ganz anderen Blatt steht daher die Frage, ob der Westen Kiew Hubschrauber, Kampfjets und weitreichende Raketen bzw. Missiles zur Verfügung stellt. Hier würde man nicht allein der Abnutzung des Krieges entgegenwirken, damit würde der Westen Kiew weitreichende operative Möglichkeiten eröffnen. Einfach gesagt: Es würde nicht nur darum gehen, eine drohende Niederlage zu verhindern, sondern man würde Kiew das Tor zu einem möglichen Sieg über Russland öffnen.
Und auch diese Entscheidung wird nicht im deutschen Kanzleramt und auch nicht in Kiew, sondern im Weißen Haus getroffen.