Gary Faulkner hatte keine Chance. Als der 50-jährige Kalifornier sich im Juni vergangenen Jahres mit einem Dolch, ein paar christlichen Büchern und einer Nachtsichtkamera auf die Suche nach Osama bin Laden machte, glaubte der religiöse Eiferer, dass sich "worlds most wanted man" in irgendeiner miesen dunklen Höhle in den afghanischen Bergen versteckt hält - und genau dort wollte Faulkner den Terrorchef auch aufspüren. Er konnte ja nicht ahnen, dass bin Laden stattdessen ganz gemütlich in einer komfortablen Villa im pakistanischen Luftkurort Abbottabad saß.
Glaubt man seinen Beteuerungen, dann hat bis zum gestrigen Montag noch nicht einmal der pakistanische Präsident Asif Ali Zardari etwas von der Residenz des Al- Kaida-Chefs in Pakistan geahnt. Auf eine entsprechende Frage von Journalisten der "Washington Post" erklärte Zardari am gestrigen Montag mit entwaffnender Einfalt, man habe bin Laden einfach woanders vermutet.
Doch ist es wirklich vorstellbar, dass es einem Mann, der von tausenden Soldaten und unzähligen Freischärlern gesucht wurde, gelingen konnte, an allen Straßenkontrollen vorbei quer durch Pakistan zu reisen, bis an die Grenze zu Indien? Und mehr noch, wie ist es möglich, dass bin Laden sich in der beschaulichen Kleinstadt Abbottabad, quasi vor den Augen des allgegenwärtigen pakistanischen Geheimdienstes ISI eine komfortable Villa errichten und jahrelang unerkannt leben konnte?
Osama und sein kostenloser Sicherheitsdienst
Wenn stimmt, was der US-Geheimdienst CIA behauptet, dann wohnte bin Laden zusammen mit seiner Familie, drei Frauen und neun Kindern, in einem 2005 errichteten, hoch gesicherten Gebäudekomplex in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer renommierten Militärakademie. Dass nie jemand gefragt hat, wer die neuen Nachbarn in einem so sensiblen Bereich wie einem militärischen Objekt sind, ist für Sicherheitsexperten kaum vorstellbar. Sie bezweifeln, dass sich Bin Laden in Pakistan ohne Wissen von Geheimdiensten und anderen Behörden des Landes aufhalten konnte.
Viel wahrscheinlicher scheint vielen, dass bin Laden die militärische Sicherheitszone mit Bedacht wählte, um dort vor neugierigen ausländischen Geheimagenten ebenso sicher sein zu können, wie vor aufdringlichen US-Drohnen. Offenbar ein guter Schachzug: Laut "Pakistan News" hatte Armeechef General Ashfaq Kayani Pervaiz vor etwa eine Woche nur einen Steinwurf von bin Laden entfernt bei einer Parade in Abbottabad öffentlich erklärt, seine Soldaten hätten das "Rückgrat" der Militanten gebrochen.
Während die pakistanischen Medien über das "peinliche Versagen des Militärs" lästern, wettert Afghanistans ehemaliger Handelsminister Mohammad Amin Farhang: "Die pakistanische Regierung wusste immer, dass er da ist, aber wollte das vertuschen." Und er geht noch einen Schritt weiter: Sein hochgesichertes Versteck im ruhigen Abbottabad beweise, dass Pakistan Top-Terroristen Unterschlupf gewähre. Schon kommen auch aus anderen Ländern Forderungen, die Vereinten Nationen sollten ihre Milliardenhilfe für Pakistan überdenken.
In einem offenbaren Akt der Verzweiflung versucht sie jetzt, den schwarzen Peter abzugeben. Und zwar an den Geheimdienst ISI. Der, so heißt es, habe einfach gründlich versagt. Man werde das klären.
Pakistans diplomatische Zwickmühle
Offiziell hat das Land sich jahrelang eifrig darum bemüht, dem Westen nicht nur seine "uneingeschränkte Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus" zu versichern, sondern auch stets behauptet, man unternehme alles, um den Radikalen im eigenen Land das Wasser abzugraben. Ein Treueschwur an die westliche Allianz, der erfolgreich verhinderte, dass Pakistan auf der Liste der Feinde Amerikas landete. Nichtsdestotrotz kritisierte Washington in der jüngsten Vergangenheit immer häufiger, Pakistan mangele es an der nötigen Entschlossenheit zur Ausrottung der Militanten im eigenen Land und der Bekämpfung der Verbindungen zu Al Kaida und den Taliban in Afghanistan.
Innenpolitisch wiederum geriet die pakistanische Regierung zunehmend wegen ihres angeblichen Schmusekurses mit dem Westen in eine Zwickmühle. Vor allem seit die USA in den vergangenen zwei Jahren offenbar völlig ungehindert ihre Militäraktionen auf pakistanischem Gebiet durchführten - und dabei auch viele unschuldige Zivilisten ums Leben kamen - mehrten sich die kritischen Stimmen im Land. Man sei schließlich ein souveräner Staat und könne nicht zulassen, "dass die Amerikaner hier tun und lassen was sie wollen", beschwerten sich Oppositionspolitiker und auch einige geistliche Führer.
"An die Amerikaner verkauft"
Und nun auch noch das Problem mit bin Laden! Offenbar war sich die Regierung nicht ganz einig, wie sie die Abbottabad-Aktion am besten verkaufen soll. Wir wussten nichts, wir wussten alles? Als gestern bekannt wurde, dass der Terror-Scheich von den Amerikanern in Pakistan getötet worden war, gingen in Islamabad ein dutzend Demonstranten gegen die Regierung und gegen die "Besatzung" auf die Straße, während seine Anhänger in einigen Moscheen blutige Rache schworen. Und selbst der ehemalige Geheimdienstchef, Generalleutnant Hamid Gul, erklärte in den "Pakistan News", das Geschehen in Abbottabad sei "ein Affront gegen ein Volk von 180 Millionen Menschen". Das Volk sei sehr wütend auf seine Führung, denn die habe sie an die Amerikaner verkauft.
Vielleicht hatte Präsident Zardari all diese Stimmen im Kopf, als er erklärte, die Schüsse auf bin Laden seien "keine gemeinsame Operation" amerikanischer und pakistanischer Sicherheitskräfte gewesen. Man sei erst anschließend von den USA über die Angelegenheit informiert worden. Dumm nur, dass gleichzeitig ein hochrangiger ehemaliger Geheimdienstoffizier und ein Sicherheitsberater in Peschawar der Nachrichtenagentur Reuters stolz verkündeten, es habe sich sehr wohl um eine gemeinsame Aktion der CIA und der Pakistaner gehandelt. Als möglichen Beleg dafür sehen die Reporter auf der pakistanischen Internetplattform "dawn.com", dass es kurz vor dem Angriff auf bin Laden mehrere außerplanmäßige Geheimdienstbesprechungen und Militärtreffen mit den Amerikanern gegeben habe.
Bauer Khan muss zum Gespräch
Ein Dilemma, das womöglich an besten gelöst werden kann, wenn die wirklichen Umstände des Aufenthalts und des Endes von bin Laden nie ans Licht kommen. Shamrez Khan hat es in der Hand. Der 50-Jährige ist zwar nur ein armer pakistanischer Bauer, der, so sagt sein Sohn, mit Politik nichts am Hut hat. Aber er war der Nachbar von bin Laden in Abbottabad. Er hat gehört und gesehen, was sich in der letzten Zeit rund um das geheimnisvolle Anwesen abspielte. Er ist also ein wichtiger Zeuge. Ein lokaler Polizeibeamter bestätigte der Nachrichtenagentur AFP, dass der Mann wenige Stunden nach der US-Operation von pakistanischen Sicherheitskräften festgenommen worden war. Zur Klärung eines Sachverhaltes.