Die ganze Welt blickte am Sonntagabend nach Deutschland. Wer wird das Erbe von Kanzlerin Angela Merkel antreten? Umso enttäuschter sind viele, dass genau diese Frage am Tag nach der Bundestagswahl noch nicht beantwortet werden kann. Zwar ist die SPD nach dem Auszählungsergebnis stärkste Kraft, doch auch die Union bekundet trotz ihrer historischen Niederlage den Willen, die Regierung anzuführen. Deshalb dürfte es zum ersten Mal seit den 50er-Jahren ein Dreierbündnis geben. Rechnerisch möglich wären sowohl eine Ampel-Koalition (SPD, Grüne und FDP) als auch ein Jamaika-Bündnis (Union, Grüne und FDP).
Die Bilanz aus dem Ausland fällt dementsprechend gemischt aus. Einige Medien prognostizieren, dass Deutschland geschwächt aus der Wahl hervortreten wird, da die Macht nun durch drei geteilt werden muss. Andere hingegen sehen in der neugeordneten Parteienlandschaft auch Chancen – für allem für Europa.
Die internationalen Pressestimmen im Überblick:
"De Standaard" (Belgien): Der Kanzler muss besser sein als Merkel
"Der nächste Bundeskanzler muss (...) noch besser sein als Angela Merkel – aus dem einfachen Grund, dass an seinem ersten Arbeitstag jede Menge drängende und vernachlässigte Aufgaben auf dem Schreibtisch liegen werden. Dabei wird auch eine weniger schöne Seite Merkels sichtbar: Zwar hat "Mutti" mit ihren großen Qualitäten viele Probleme gelöst, doch Fragen, die ihr zu knifflig erschienen, hat sie geräuschlos ihrem Nachfolger und künftigen Generationen zugeschoben."
"DNA" (Frankreich): Lindner spielt den Schiedsrichter
"Letztendlich sind die Grünen die großen Sieger, die trotz ihres durchwachsenen Ergebnisses die dritte Kraft des Landes darstellen, aber vor allem auch die FDP von Christian Lindner. Er wird den Schiedsrichter spielen und hat dabei die Art und Weise noch nicht verdaut, wie er vor vier Jahren von CSU und den Grünen behandelt wurde, als diese schon einmal versuchten, eine Mehrheit zu bilden. Auch wenn die Verhandlungen noch nicht angefangen haben, kündigen sie sich bereits als unlösbar an. Und versprechen Angela Merkel, die den Übergang gewährleisten muss, noch ein paar Monate an der Spitze des Landes zu bleiben."
"De Telegraaf" (Niederlande): Nächster Kanzler wird schwächer sein
"Der nächste Regierungschef in Berlin wird ein schwächerer Kanzler sein. Dies ist eine schlechte Nachricht für die Europäische Union, in der Deutschland mit Blick auf Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft führend in einer unruhigen Welt sein muss. Der neue deutsche Bundeskanzler wird wohl eher ein "primus inter pares" sein – der Erste unter Gleichen, wie das beim Ministerpräsidenten in den Niederlanden der Fall ist. Dem steht jemand wie Emmanuel Macron gegenüber, der als französischer Präsident über weitreichende Macht verfügt."
"La Repubblica" (Italien): Wie soll man eine Mutter austauschen?
"Wie soll man bloß eine Mutter austauschen? Die deutschen Wähler wissen es nicht und haben deshalb keinen Hinweis gegeben, wer sich auf Angela Merkels Stuhl setzen soll. Und Deutschland steht am Ende eines Wahlsonntags ohne Kanzler da."
"Verdens Gang" (Norwegen): Absturz der Christdemokraten
"Es ist eine historisch schlechte Wahl für die Christdemokraten. Angela Merkel ist viele Jahre lang deutlich beliebter als ihre eigene Partei gewesen. Als sie keine erneute Wiederwahl als Kanzlerin anstrebte, fanden viele ihrer Wähler andere Alternativen als die Christdemokraten. Baerbock und Scholz sind die Wahlsieger. Aber sie haben sich mehr gewünscht. Es sieht nach einem knappen Sieg für Scholz aus, er hatte auf ein deutlicheres Mandat gehofft. Und da die Erwartungen bei den Grünen so groß waren, wird selbst das beste Resultat der Partei zu einer kleinen Enttäuschung. Aber die große Geschichte dieser Wahl ist der dramatische Absturz der Christdemokraten."
"The Age" (Australien): Wenig Begeisterung für die Kanzlerkandidaten
"Deutschland steht vor wochenlangen, wenn nicht monatelangen Verhandlungen über die Nachfolge von Angela Merkel als Kanzlerin. Es war eine knappe Wahl, bei der die Wähler wenig Begeisterung für die Kandidaten gezeigt haben, die um die Führung der größten Volkswirtschaft Europas kämpfen. Merkel, die in ihrer 16-jährigen Amtszeit als Königin von Europa und mächtigste Frau der Welt bezeichnet wurde, wird bis zur Bildung einer neuen Koalition an der Macht bleiben. (...) Aber letztlich wird keine der großen Parteien mit ihrem Ergebnis zufrieden sein."
"Politiken" (Dänemark): Deutschland muss beim Klima Ernst machen
"Die mit Abstand größte Aufgabe der nächsten Regierung ist es, Deutschland viel weiter in den Klimakampf hineinzubringen, als es jetzt ist. Das ist nicht nur für Deutschland entscheidend, sondern für die ganze EU. Als größtes Land und dominierende Wirtschaft der Union ist Deutschland entscheidend dafür, dass die EU bei ihrer grünen Umstellung in den kommenden Jahren ins Ziel kommt - nicht nur direkt durch seine eigenen Emissionen, sondern großteils auch als tonabgebendes politisches Machtzentrum. Die Grünen haben nicht die Wahl bekommen, von der sie geträumt haben. Aber die Wahl ist zu einer Klimawahl geworden."
"Der Standard" (Österreich): Europa braucht starken Bundeskanzler
"In der Theorie ist der nächste deutsche Kanzler so schwach wie kein anderer vor ihm, da seine Macht von nun gleich zwei Partnern abhängt. In der Praxis kommt es daher auf sein Geschick an, sich eine starke Position zu sichern. Gerade jetzt, da die USA alte Allianzen überdenken und die EU feststellt, dass die Amerikaner nicht mehr für Europas Interessen in die Bresche springen, braucht Europa einen starken deutschen Kanzler."
"Rossijskaja" (Russland): Politisches Ringen ist nicht vorbei
"Zwei Kanzlerkandidaten auf einmal – Olaf Scholz von der SPD und Armin Laschet von der CDU – traten triumphierend vor ihre Anhänger und bekundeten ihre Bereitschaft, die künftige Regierung zu führen. Bisher gibt es kaum Zweifel an einem Punkt: Deutschland wird eine Dreier-Koalition auf Bundesebene erhalten. Tatsächlich steht der wichtigste politische Kampf erst noch bevor. (...) Und viele Experten glauben, dass es wirklich früh ist, Laschet abzuschreiben. Zugleich erklärte der sozialdemokratische Kandidat selbstbewusst: "Die Bürger wollen, dass der neue Kanzler Olaf Scholz heißt.""
"El País" (Spanien): Neue Parteienlandschaft
"Deutschland steht vor einer neuen Parteienlandschaft. Die Ära der Parteien, die 30 oder 35 Prozent der Stimmen erhielten und es sich leisten konnten, mit einem einzigen Partner zu regieren, ist vorbei. Die Auffächerung der Stimmen bei dieser Wahl hat eine ungewöhnliche Situation geschaffen, in der zwei Parteien bei 25 Prozent liegen und drei weitere sich zwischen 10 und 15 Prozent bewegen. Lässt man die rechtsextreme AfD, mit der sich niemand einlassen will, aus der Gleichung heraus, dann sind zwei gar nicht mehr so kleine Parteien entscheidend für die Bildung der nächsten Regierung. Die Grünen und die Liberalen der FDP halten den Schlüssel bei der Entscheidung, ob der nächste Kanzler Olaf Scholz oder Armin Laschet heißt."
"NZZ" (Schweiz): Laschets Verhandlungsbasis ist schwach
"Wer weiß, vielleicht kommt Olaf Scholz der FDP am Ende so weit entgegen, dass die Kompromisse in der Summe mehr überzeugen als das, was Armin Laschet mit den Grünen aushandeln könnte. Denn so viel steht fest: Annalena Baerbocks Traum vom Kanzleramt mag implodiert sein, aber das Ergebnis ihrer Partei ist laut den bisherigen Hochrechnungen so stark wie nie. Ihre Parteibasis wird entsprechende Erwartungen an sie und Robert Habeck haben, einen Koalitionsvertrag auszuhandeln, der so grün ist wie keiner zuvor. Und wenn einer in einer schwachen Verhandlungsposition ist, dann Armin Laschet, der seiner Partei voraussichtlich das schlechteste Wahlergebnis der Geschichte eingebrockt hat."