Es kommt im kontrollbesessenen China der Xi-Jinping-Ära selten vor, dass die Sicherheitsbehörden einen überrumpelten Eindruck machen. Rund um den Halloween-Tag in dieser Woche aber wirkte die Shanghaier Polizei- und Parteiführung tatsächlich weitgehend unvorbereitet auf die explosionsartige Welle jugendlicher Energie, die mehrere Nächte in Folge durch die Stadt rollte. Zum ersten Mal seit dem Ende von Xis rigider Null-Covid-Politik konnte Halloween wieder öffentlich gefeiert werden. Zehntausende dürften es gewesen sein, die von Samstag bis Dienstag kostümiert und feiernd durch die Straßen von Shanghai zogen – und dabei teils mit subtilen Verkleidungen die Staatsführung bloßstellten.
Eines der beliebtesten Kostüme mit politischer Note war der weiße Ganzkörperanzug, wie ihn in der Null-Covid-Phase Polizisten und Seuchenschutzkommandos trugen. Besonders den Shanghaiern, die damals für rund zwei Monate in einen unvorbereiteten Komplett-Lockdown geschickt wurden, ist der Anblick dieser sogenannten "Großen Weißen" noch schmerzhaft deutlich im Gedächtnis. Die Parteiführung dagegen wird heute nicht mehr gerne an ihre fehlgeleitete Politik von damals erinnert – und geht gegen kritische Erwähnungen etwa im Internet mit harter Zensur vor. Auch bei den Halloween-Feiern wurden einzelne Kostümierte in Seuchenschutzanzügen von Polizisten aus der Menge gedrängt oder zum Ablegen ihrer Verkleidungen angehalten. Aber längst nicht überall kamen die Sicherheitskräfte schnell genug hinterher.
Chinas "Winnie Puh"
Vor fast einem Jahr löste der zunehmende Frust über die Covid-Schutzmaßnahmen in Shanghai intensive Straßenproteste aus. Viele Demonstranten hielten dabei weiße Din-A4-Blätter in den Händen, um zu versinnbildlichen, wie wenig sich in China öffentlich sagen lässt. Auch die Erinnerung an die Proteste von damals wird in China heute streng zensiert. Bei den Halloween-Feiern in Shanghai traute sich eine Teilnehmerin nun trotzdem, in einem Kostüm aus weißen A4-Blättern zu feiern. Andere Verkleidungen spielten auf die in China allgegenwärtige Präsenz von Überwachungskameras an. Die Polizei reagierte nicht begeistert.
Mehrfach gesichtet wurden in der Halloween-Menge auch Feiernde in Winnie-Puh-Kostümen. Dem Bären wird in China eine gewisse Ähnlichkeit mit Xi Jinping nachgesagt, weshalb sein Name im Netz als codierter Ausdruck für den Staatschef kursiert. Offene Diskussionen über Xi sind online kaum möglich, weil Internetzensoren unerwünschte Kommentare mit Erwähnung des Parteiführers umgehend tilgen. Im vergangenen Jahr sickerte eine Zensurliste eines chinesischen Social-Media-Kanals durch, aus der hervorging, dass die Plattform zu jenem Zeitpunkt insgesamt 564 Spitznamen für Xi blockierte, darunter "Cäsar", "Der letzte Kaiser" sowie 21 Abwandlungen von "Winnie Puh".
Auch Kritik an der miesen Wirtschaftslage, die sich von den Folgen der Null-Covid-Abschottung bis heute nicht erholt hat, verpackten manche Halloween-Gäste in ihre Kostüme. In Anspielung auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit trugen mehrere Feiernde Schilder, die sie als frische Uni-Absolvent identifizierten – und dazu Sammelbüchsen für Geldspenden. Ein anderer Mann hängte sich ein Plakat mit der abstürzenden Kurve des wichtigsten chinesischen Börsenindexes SSE Composite um den Hals.
Batman führt den Polizeitrupp an
Die Polizei wirkte teils unsicher, wie sie die Kostüme einordnen sollte – und griff im Zweifel lieber vorsorglich ein. So erging es etwa einem jungen Mann, der sich als Lu Xun verkleidet hatte, Chinas wichtigster Schriftsteller der modernen Ära. In den Händen hielt er ein Schild mit der Aufschrift "Medizin studieren wird die Chinesen nicht retten". Mit diesen Worten hatte Lu Xun in den 1930er-Jahren sein Medizinstudium in Japan abgebrochen und sich ganz dem Schreiben zugewandt. Sein kostümiertes Alter Ego wandte sich in Shanghai in einer spontanen Rede voller Zitate an die Halloween-Menge: "Wer handeln kann, der handele, wer sprechen kann, der spreche …". Die Polizisten, die den Mann daraufhin vom Platz drängten, dürften sich kaum am uneindeutigen Sinn seiner Worte gestört haben, sondern allein an der Tatsache, dass da jemand ohne Parteimandat öffentlich das Wort ergriff.
In der Nacht von Montag auf Dienstag wurde es den Stadtoberen dann offenbar im Wortsinn zu bunt. In Teilen der Innenstadt marschierten Polizisten in Kettenformation durch die Straßen, um das Feiervolk abzudrängen. Ein breitschultriger Hüne im Batman-Kostüm nutzte die Gunst der Stunde: Er setzte sich an die Spitze eines Polizeitrupps und ließ sich mit den Uniformierten im Rücken filmen – als führe er sein privates Superheldenkommando durch die Straßen von Shanghai. Der Clip wurde im Netz gefeiert.
Und auch wenn es letztlich nur einzelne waren, die in Shanghai mit ihren Halloween-Kostümen subtile, für Xi Jinpings Regime nicht ansatzweise gefährliche Zeichen setzten: Mit so viel Witz und kreativer Energie wurde in China schon lange nicht mehr öffentlich die Staatsgewalt vorgeführt.