Krieg oder Frieden, lautet die Frage. Am 1. Oktober diskutieren amerikanische Regierungsmitglieder bei einem Grundsatztreffen einen Militärschlag gegen Syrien. Außenministerin Condoleezza Rice, so lassen Teilnehmer der Sitzung später an das Magazin "Newsweek" durchsickern, verhindert den Angriff. Sie will erst den Bericht von Detlev Mehlis abwarten. Der werde das Regime von Baschar Assad in die Enge treiben. Das Argument sticht. Die Bomber bleiben am Boden. Vorerst zumindest.
Mehlis sitzt in seinem Büro in Beirut und kräuselt die Stirn. Die Vorstellung, dass die Supermacht USA einen weiteren Krieg von seinem Bericht abhängig macht, bereitet dem deutschen UN-Ermittler sichtlich Unbehagen. Er bläst die Backen auf, bevor er in der ihm eigenen, zurückhaltenden Art sagt: "Ich will mich nicht mit Hans Blix vergleichen. Aber ich weiß jetzt, wie er sich gefühlt haben muss." Von seinem schwedischen Kollegen erwarteten die USA einst einen Freibrief für den Feldzug gegen Saddam Hussein. Blix sollte im Irak die Massenvernichtungswaffen finden, die es nicht gab. Mehlis sucht keine Massenvernichtungswaffen, sondern Mörder. Im Auftrag der UN soll der Berliner Oberstaatsanwalt ein brutales Verbrechen aufklären - das Attentat auf Rafik Hariri. Der frühere libanesische Premierminister sowie 20 seiner Gefolgsleute waren im Februar Opfer eines Bombenanschlags geworden. Mitten in Beirut wurde in dem Moment eine Tonne TNT gezündet, als Hariris Konvoi vorbeifuhr.
Bereits 24 Stunden später, die Brände im Bombenkrater und den umliegenden Häusern waren noch nicht gelöscht, die Opfer noch nicht alle identifiziert, da hatten die USA den Schuldigen bereits ausgemacht: Syrien. Hariri, der Selfmade-Milliardär und Politiker, habe die Unabhängigkeit des Libanon von dem übermächtigen Nachbarn angestrebt und deshalb sterben müssen. Washington zog umgehend seine Botschafterin aus Damaskus ab, und Condoleezza Rice drohte mit Vergeltung. In Beirut gingen eine Million Menschen auf die Straße. Mit Erfolg. Syrien, die Besatzungsmacht, zog seine 14 000 Soldaten aus dem Libanon ab. Zurück blieb die Frage: Wer hat Hariri umgebracht?
Mehlis erfuhr Mitte Mai auf Mallorca, dass er für die UN die Ermittlungen leiten solle. Der 56-Jährige, der bereits so spektakuläre Terroranschläge wie den auf die Berliner Diskothek "La Belle" aufgeklärt und Libyen als Schuldigen überführt hatte, musste nicht lange überlegen: "Mir war sofort klar: Das ist der Fall meines Lebens." Er kauft zwei Sommeranzüge, ein paar Hemden und Schuhe und fliegt von Palma nach New York. Am Hauptsitz der UN trifft er Generalsekretär Kofi Annan, um dann gleich nach Beirut weiterzureisen. Auf dem Flughafen erwarten ihn libanesische Minister, hochrangige Militärs, Politiker und Dutzende von Journalisten. Die Erwartungen in ihn sind groß.
Bevor er sich ins Hotel fahren lässt, besucht Mehlis die Grabstätte von Hariri. Dort sind überall Fotos des Getöteten aufgestellt. Eine große elektronische Tafel zeigt die Tage an, die seit der Ermordung vergangen sind, ohne dass die Täter gefasst wurden. Das UN-Mandat für die Ermittlungen ist auf drei Monate beschränkt und kann maximal um drei Monate verlängert werden. Das ist nicht viel Zeit, um ein Verbrechen dieser Größenordnung aufzuklären. Am Fall "La Belle" hatte Mehlis 15 Jahre lang gearbeitet.
Am nächsten Tag besucht er die Familie Hariri, spricht mit der Witwe, mit den Töchtern. Schließlich taucht Saad Hariri auf, der neue Hoffnungsträger des Libanon. "Meinen Sie, dass Sie den Mord an meinem Vater aufklären können?" Hariri jr. fürchtet, dass wieder einmal Mörder ungeschoren davonkommen könnten. Seit dem Ende des Bürgerkrieges vor 15 Jahren gab es im Libanon eine Reihe von Attentaten, keines wurde aufgeklärt.
Zunächst muss Mehlis ein Team zusammenstellen. Auf seinem Schreibtisch im Hotel Mövenpick in Beirut, in dem der sechste Stock für die UN-Mission abgeriegelt ist, stapeln sich Bewerbungsunterlagen aus aller Welt. Darunter von Verfassungsrichtern aus Italien, mit persönlichem Empfehlungsschreiben von Silvio Berlusconi. Aber Mehlis braucht keine Gesetzesausleger, sondern erfahrene Ermittler. Er holt sich zwei deutsche Staatsanwälte, Achim Thiel aus Frankfurt und Günter Neifer aus Kleve. Das BKA stellt fünf erfahrene Fahnder ab, darunter den Top-Mann Gerd L. "Dass er mitmacht," so Mehlis, "war für mich die Voraussetzung."
Obwohl er noch gar nicht genügend Leute zusammenhat, erklärt Mehlis sein Team Mitte Juni für einsatzbereit. Vier Tage später schlagen sie zu. Durchsuchen die Privatwohnung und das Büro von Mustafa Hamdan, dem Chef der Präsidentengarde. Hamdan hatte unmittelbar nach dem Anschlag am Tatort wichtige Spuren verwischen lassen. Auf seine Anordnung hin war der Bombenkrater zugeschüttet worden.
Die Razzia sorgt für Aufsehen. Mehlis hat unter Beweis gestellt, dass er es ernst meint. 24 Stunden später explodiert unter dem Fahrersitz eines antisyrischen Politikers eine Bombe. An der Maschinenpistole, die der Politiker zu seinem Schutz im Auto hatte, hängen Leichenteile. Es ist still im Raum, als Mehlis' Team die Bilder sieht. Sind sie den Tätern zu nahe gekommen? Die Sicherheitsvorkehrungen werden verstärkt. Mehlis wird auf Schritt und Tritt von Bodyguards begleitet, auch wenn er im Hotel mal auf die Toilette geht. Seine Wäsche wird unter anderem Namen zur Reinigung gebracht.
Anfang Juli hat Mehlis seine Truppe komplettiert. Er verfügt über 100 Mitarbeiter, darunter 30 Ermittler aus aller Welt. In Deutschland hatte er fünf Mitarbeiter und musste sich auch nicht ständig mit Botschaftern und Ministern treffen. Aber der parteilose Berliner bewegt sich in Beirut auf diplomatischem Parkett, als hätte er in den vergangenen Jahren nichts anderes gemacht.
Aus Sicherheitsgründen zieht das UN-Team um. In die Berge. Das Hotel Mon-teverde, zur Festung umgebaut, ist von Militärs weiträumig abgesperrt. Panzersperren. Drei Checkpoints. Alle ankommenden Autos werden auf Sprengstoff untersucht.
Das UN-Team befragt in den nächsten Wochen mehr als 400 Zeugen, unter ihnen auch die früheren Chefs des libanesischen Sicherheitsapparates. Eigens eingeflogene Forensiker drehen am Tatort noch einmal jeden Stein um. Andere Experten prüfen sämtliche Telefonverbindungen unmittelbar vor dem Anschlag. Aus den Daten verschiedener Prepaid-Handys lassen sich Bewegungsmuster der möglichen Attentäter erstellen. Demnach waren am Anschlag mindestens acht Personen direkt beteiligt, den Kreis der Verschwörer schätzen die Ermittler auf insgesamt 20. Damit ist auch die Mär vom einzelnen Selbstmordattentäter vom Tisch, die seit Monaten im Libanon kolportiert wurde.
Für Mehlis wird immer deutlicher, dass nur Geheimdienstleute den Anschlag begangen haben können. Eine Bestätigung für diese These kommt von unerwarteter Seite. Ein syrischer Überläufer packt aus, nennt Namen möglicher Hintermänner. Die Quelle wird sicherheitshalber außer Landes gebracht, nach Europa. Ein Ermittler pendelt ständig hin und her, die Aussagen des Informanten müssen vor Ort verifiziert werden.
Ende August ist es so weit. Mehlis lässt vier Personen festnehmen, unter ihnen Hamdan, der Kommandeur der Präsidentengarde, sowie drei frühere Sicherheitschefs. Alle beteuern, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun haben, allen voran Jamil Sayyed, der einst allmächtige Sicherheitschef des Libanon: "Für meine Unschuld gehe ich bis ans Ende der Welt", sagt er im ersten Verhör und lässt nicht unerwähnt, dass er vor wenigen Tagen mit dem US-Botschafter diniert habe.
Auch zum deutschen Geheimdienst
hatte Sayyed beste Verbindungen. Für die Oberen des BND war er einer der wichtigsten Verbündeten im Mittleren Osten. Sie kamen regelmäßig nach Beirut, um sich mit ihm zu treffen. Und Gardekommandeur Hamdan hatte nach Informationen des stern vor zwei Jahren seine Leute zur 17-tägigen Ausbildung in die Bundesrepublik geschickt. BKA-Experten unterwiesen anschließend die Präsidentengarde in Beirut in Sprengstoffkunde.
Als die Verhaftung der vier bekannt wird, kommt es in Sidon, dem Geburtsort von Hariri, zu spontanen Demonstrationen. Menschen gehen auf die Straße, halten Hariri-Plakate hoch, skandieren den Namen des Ermordeten, aber auch immer wieder "Mehlis, Mehlis É" Der Berliner Staatsanwalt ist ein Star im Libanon. Gaben sich früher Touristen in den Restaurants der Vergnügungsmeile in Jounieh als Deutsche zu erkennen, ernteten sie ein anerkennendes "Beckenbauer". Nun ist auch immer wieder ein respektvolles "Mehlis" darunter. Inzwischen werden in Beirut schon die ersten Babys auf den Vornamen "Mehlis" getauft.
Nach wochenlangem diplomatischem Gezerre kann Mehlis am 20. September nach Syrien fahren, um dort Geheimdienstchefs und Politiker zu vernehmen. Bis zur Grenze wird der Autokonvoi von einem Helikopter der libanesischen Armee eskortiert. Danach liegt seine Sicherheit in den Händen seiner Bodyguards.
Die Syrer bestehen darauf, dass die Verhöre nicht in einem Regierungsgebäude stattfinden. Man trifft sich im Hotel Monte Rosa kurz hinter der Grenze. Dort vernimmt Mehlis zunächst den syrischen Vizeaußenminister sowie den Leiter der Antiterrorabteilung des Geheimdiensts. Danach kommt Rustom Ghazaleh an die Reihe, bis zum Abzug der Syrer im April Statthalter des Assad-Regimes im Libanon. Folteropfer berichteten, wie Ghazaleh selbst Hand anlegte. Mehlis verliest ihm seine Rechte. Obwohl der Syrer Englisch spricht, lässt Mehlis jedes Wort von seiner marokkanischen Assistentin ins Arabische übersetzen. Er macht Ghazaleh deutlich, dass er nicht als Zeuge vernommen wird, sondern als Beschuldigter. Ghazaleh verzieht keine Miene. Fünf Stunden lang lässt er die Vorhaltungen über sich ergehen, verhöhnt Mehlis: "Ich liebe alle Libanesen, und Hariri habe ich besonders geliebt."
Aber Mehlis hat noch ein Ass im Ärmel. Er hat dank seines guten Verhältnisses zu Regierungsmitgliedern erreicht, dass das Bankgeheimnis für seine Recherchen aufgehoben wurde. Ohnehin gibt ihm die UN-Resolution 1595 weitreichende Vollmachten, zwingt auch Syrien zur Kooperation, und die USA machen unverhohlen Druck auf das Regime in Damaskus. Die Ermittler haben Konten einer Reihe von Verdächtigen unter die Lupe genommen. Bei einer Beiruter Bank stießen sie auf ein Konto von Ghazaleh mit einem Guthaben von 20 Millionen US-Dollar. Mehlis fragt ihn, wie er zu so viel Geld kommt. Ghazaleh überlegt, bevor er antwortet. Schließlich sagt er: "Was hat mein 20-Millionen-Dollar-Vermögen mit dem Mord zu tun?" Mehlis geht nicht darauf ein. Die zwei syrischen Beobachter des Verhörs werfen sich Blicke zu.
Jeder im Raum weiss Bescheid.
Ein Geheimdienstchef verdient 3000 Dollar im Monat. Geld ist ein starkes Motiv. Auch für Mord. Hariri wollte der Selbstbedienungsmentalität der syrischen Besatzer entgegentreten und das Ausbluten des Libanon stoppen.
In den folgenden Tagen vernehmen die UN-Ermittler weitere sieben syrische Geheimdienstchefs, darunter auch Asef Shawkat, Syriens Geheimdienstkoordinator. Damit reicht der Kreis der Verdächtigen bis in die Familie des syrischen Staatschefs. Shawkat ist der Schwager von Baschar Assad, gilt als einer seiner engsten Vertrauten und wird nach Informationen des stern nicht als Zeuge, sondern als Beschuldigter vernommen.
Mittwoch vergangener Woche hat sich Staatschef Baschar Assad erstmals konkret zu möglichen Konsequenzen der Mehlis-Ermittlungen geäußert. "Sollten tatsächlich syrische Staatsbürger in das Attentat verwickelt sein, werden sie als Landesverräter betrachtet und äußerst streng bestraft. Und wenn sich kein internationales Gericht findet, um sie zu bestrafen, wird dies in Syrien geschehen", sagt Assad dem amerikanischen Sender CNN. "Hier droht ihnen jedenfalls die Höchststrafe."
Fast zeitgleich gibt auch sein Innenminister Ghazi Kanaan dem christlichen Radiosender Voice of Lebanon ein Interview. Kanaan war bis 2003 der syrische Statthalter im Libanon. Auch ihn hatte Mehlis' Team vernommen, aber nur als Zeugen. Trotzdem hat Kanaan in dem Interview das Bedürfnis, seine Unschuld zu beteuern: "Ich habe den dringlichen Wunsch, hier deutlich zu machen, dass unsere Beziehung zu unseren Brüdern im Libanon von jeher auf Liebe und gegenseitigem Respekt beruht." Zuletzt bittet er die Reporterin, das Interview auch anderen Sendern im Libanon zur Verfügung zu stellen: "Ich denke, dies war meine letzte Erklärung." Gegen Mittag wird Kanaan in seinem Büro tot aufgefunden. Er habe sich die Mündung seines Revolvers in den Mund gesteckt und abgedrückt, heißt es. Wenige Stunden später kommen erste Zweifel auf, ob er freiwillig aus dem Leben geschieden ist.
Mehlis sitzt zu dem Zeitpunkt in Wien und schreibt an seinem Bericht. Der Berliner genießt, dass er sich in der österreichischen Hauptstadt endlich wieder halbwegs frei bewegen kann. In Beirut war das undenkbar. Vor seinem Abflug hatte eine islamistische Gruppierung namens "Jund El Sham" ihn als Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad bezeichnet und ihre Anhänger aufgefordert, Mehlis den Kopf abzuschlagen.
In Beirut wurde seine Abreise bedauert. Premierminister Fouad Siniora bestellte den Deutschen ein, beschwor ihn, zu bleiben. Zudem rief er UN-Generalsekretär Kofi Annan an und bat ihn darum, das Mandat von Mehlis zu verlängern. Die Sicherheit im Libanon sei sonst nicht mehr garantiert. "Wir sind Ermittler und keine Blauhelmsoldaten", stellt Mehlis klar. Aber Annan hat "Detlev", wie er Mehlis inzwischen zu nennen pflegt, gebeten, nach Beirut zurückzukehren und bis zum 15. Dezember zu bleiben.
Doch zunächst wird Mehlis seinen Bericht am Freitag dem UN-Generalsekretär übergeben. Am Dienstag wird das Dokument dann im Weltsicherheitsrat diskutiert. George W. Bush hat sich bereits zu Wort gemeldet: "Ich will dem Mehlis-Report nicht vorgreifen", sagte der US-Präsident Ende vergangener Woche in Washington. "Aber nun erwartet die Welt, dass Syrien die Demokratie im Libanon akzeptiert."