Es gibt zwei Länder in Europa, die sich sichtlich schwertun, sich im Ukraine-Konflikt zu positionieren. In Österreich war bereits im April eine Debatte über die vielbeschworene Neutralität entbrannt (der stern berichtete). Den Kurs zieht das Land immer noch durch – zuletzt, indem es sich gegen das europäische Visaverbot für russische Bürger aussprach. Auch die Schweiz hadert seit Kriegsbeginn mit ihrer Neutralität. Nur zögerlich schloss sich die Regierung im Februar den internationalen Sanktionen gegen Russland an – und handelte sich damit gleich die Kritik des Unternehmers und ehemaligen Mitglieds des Bundesrates der Schweiz, Christoph Blocher, ein. Dem Verfechter der immerwährenden Neutralität missfiel die Entscheidung der Regierung. Denn die Schweiz habe sich so zur Kriegspartei gemacht.
In einem Initiativtext fordert er nun eine integrale Neutralität. Soll heißen: Die Schweiz soll "immerwährend bewaffnet neutral" bleiben. So sehen es auch die Folgeverträge nach dem Wiener Kongress (1815) vor. Blocher dringt zudem darauf, militärische Bündnisse jeglicher Art auszuschließen. Einzige Ausnahme: Ein militärischer Angriff auf die Alpenrepublik. Auch Sanktionen dürfe sich die Schweiz demnach nicht mehr anschließen. Ihre einzige Aufgabe in kriegerischen Zeiten soll die Vermittlung zwischen Konfliktparteien sein. In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Monate allerdings ein anderes Land hervorgetan.
Nicht nur die Politik denkt um
Richtig gut dürfte Blochers Initiativtext bei den Schweizer Bürgern jedenfalls nicht mehr ankommen. Seit Russland die Ukraine überfallen hat, blicken einige kritisch auf die vielbeschworene Neutralität, zeigt eine aktuelle Umfrage der Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich und dem Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. 89 Prozent der Befragten stehen zwar immer noch hinter dem Neutralitätsprinzip, allerdings lag die Zustimmung im Januar noch bei 97 Prozent. Knapp 60 Prozent glauben noch daran, dass die Neutralität das Land vor internationalen Konflikten schützt – ebenfalls gut zehn Prozent weniger als noch zu Beginn des Jahres. Stattdessen erreichen die Zustimmungswerte bei einer Kooperation mit der Nato einen Spitzenwert. Auch der Wunsch nach einem Beitritt zu dem Militärbündnis ist im Vergleich stärker geworden, obschon sich eine große Mehrheit immer noch dagegen ausspricht.
Ein Reformgeist geht um in dem Land. Das zeigt nicht nur die Umfrage, sondern auch ein Kurs unter der Federführung von Bundespräsident Ignazio Cassis. Der hatte das Eidgenössische Department für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit einer Studie zur Neuausrichtung der Neutralität beauftragt. Entsprechende Medienberichte aus der Schweiz bestätigte die Behörde auf stern-Anfrage. Details zu dem Papier, das laut Medienberichten bereits kursiert, wollte eine Sprecherin zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht nennen.
Der Bericht wurde bereits Mitte August dem Bundesrat übergeben, schreibt etwa die NZZ. Dieser "wird sich in den nächsten zwei bis drei Wochen mit dem Bericht befassen und ihn anschließend der Öffentlichkeit vorlegen", lautet die schriftliche Antwort der EDA. "Ein genaues Datum ist derzeit jedoch noch nicht bekannt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann das EDA keine weiteren Angaben dazu machen", teilte die Sprecherin mit. Auch auf der offiziellen Website wird es nicht konkreter. Nur so viel: Der Bericht solle im Sommer verabschiedet werden – 23 Tage hat der Bundesrat also noch.
Neutralität im 21. Jahrhundert – diese Optionen hat die Schweiz
Ersten Informationen zufolge, die bereits an die Schweizer Presse durchgesickert sind, planen EDA und Bundespräsident eine "kooperative Neutralität". Den Begriff verwendete Cassis bereits bei seiner Eröffnungsrede am Weltwirtschaftsforum in Davos und signalisierte damit die Kooperationsbereitschaft seines Landes. Cassis bezeichnete die Schweiz damals als "neutrales Land, das sich für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur einsetzt, die nur multilateral entstehen kann". In dem EDA- Entwurf gibt es fünf Szenarien, wie die "Neutralität der Schweiz im 21. Jahrhundert" aussehen könnte:
- Die Integrale Neutralität, wie sie etwa Blocher propagiert, sieht vor, dass sich die Schweiz aus jeglichen Konflikten heraushält. Rüstungsexporte an Kriegsparteien, das Mittragen von Sanktionen – all das ist tabu. Selbst die heutige sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Nato müsste noch mal geprüft werden.
- Die Schweiz könnte auch den Status quo beibehalten, der auf dem Neutralitätsbericht von 1993 basiert. Demnach dürfen Sanktionen mitgetragen und mit der Nato kooperiert werden, wie es über das Progamm Partnership for Peace bereits passiert. Selbst ein EU-Beitritt wäre nach den aktuellen Regeln erlaubt.
- Die dritte Option wäre die von Cassis bereits angesprochene kooperative Neutralität. Damit könnte die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Nato und der EU verstärkt werden. Im EDA-Entwurf steht dazu, "dass in der heutigen Welt die Unabhängigkeit und Sicherheit der Schweiz nur gemeinsam mit anderen erreicht werden kann".
- Bei der Ad-hoc-Neutralität, wie sie Finnland und Schweden bis zu ihrem Nato-Beitritt praktizierten, würde die Schweiz auf ihre Neutralität verzichten, wenn ein europäischer Staat oder die freiheitliche Weltordnung angegriffen würden. Die Folgen: In Einzelfällen und mit guter Begründung könnte auf Sanktionen verzichtet werden, ansonsten könnte die Waffenausfuhr gelockert, Kooperationsabkommen zur Verteidigung und militärische Überflüge über "Wertepartnern" möglich werden. Ausgeschlossen ist aber weiterhin ein Nato-Beitritt.
- Das fünfte Szenario sieht einen Verzicht auf die Neutralität vor. Damit könnte die Schweiz dem Beispiel Finnlands und Schwedens folgen und dem transatlantischen Militärbündnis beitreten.
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Worfür wird sich die Schweiz am Ende entscheiden?
Für Option Nummer Drei – also die kooperative Neutralität – spricht derzeit nicht nur die Rede des Bundespräsidenten. In ihrem Entwurf verweist die EDA darauf, dass die Schweiz sich so leichter außenpolitisch positionieren könnte. Gleichzeitig können so die bisherigen Entscheidungen, etwa die Unterstützung der Sanktionen, abgesichert werden.
Kritiker sehen in dem ganzen Wirbel um die Schweizer Neutralität jedoch eine Scheindebatte. Für den Leiter der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz, Sacha Zala, geht es dabei um die Ausrichtung der Außenpolitik, über die aber eigentlich niemand diskutieren wolle. Die Neutralität sei identitätsstiftend und neutralisiere auch mögliche innere Konflikte. Allerdings muss auch der Forscher einräumen, dass eine neutrale Außenpolitik in der Zeit nach dem Eisernen Vorhang wegen der zunehmenden Vernetzung immer schwieriger geworden ist.