Der vergangene Mittwoch war kein Tag wie jeder andere für die gegenwärtig 750 Europaabgeordneten. Als viele von ihnen am Morgen zu ihren Sitzungen im Brüsseler Parlamentsgebäude eilten, veröffentlichten Journalisten des Recherchebündnisses "The MEPs Project" zugleich überall in Europa die Ergebnisse einer gemeinsamen Recherche über die Spesenpraxis der europäischen Volksvertreter.
Mit einer Vorabmeldung am Dienstag Abend trugen auch deutsche Journalisten zu dem Recherchevorhaben bei. Zusammen mit dem ARD-Magazin "Report Mainz" enthüllte der stern, dass acht deutsche EU-Parlamentarier selbst Eigentümer der Häuser sind, in denen sie ihr Regionalbüro unterhalten. Mehrere bestätigten, dass sie die Kosten dieser Büros aus dem EU-Spesentopf finanzieren - darunter der CSU-Politiker und EVP-Fraktionschef Manfred Weber sowie die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch.
Parlamentarier überweisen EU-Geld an Parteien weiter
Von Italien bis Schweden hatten Journalisten Fälle recherchiert, die Anlass zu Fragen gaben - zum Beispiel Fälle, in denen die EU-Mittel offenbar einfach an Parteien weiterüberwiesen wurden. Obwohl die sogenannte Allgemeine Kostenvergütung von monatlich 4342 Euro in erster Linie für den Unterhalt eines Wahlkreisbüros gedacht ist, ließ sich europaweit bei einem Drittel der Abgeordneten keinerlei solches Büro ausfindig machen - zum Beispiel bei mehr als der Hälfte der 73 italienischen Deputierten. Dutzende Parlamentarier erklärten ganz offen, dass sie kein Büro unterhalten. Die steuerfreie Kostenpauschale stecken die meisten offenkundig trotzdem ein.
Und von den Niederlanden bis nach Bulgarien gab es Fälle von Abgeordneten, die gar keine Auskunft geben wollten. Sie ließen E-Mails einfach unbeantwortet - so wie auch der heutige SPD-Chef und langjährige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, den der stern und "Report Mainz" ebenfalls wiederholt um Auskunft über seine Haltung zu den Spesenpraktiken gebeten hatten.
Mehrheit gegen mehr Kontrollen der Ausgaben
Seit Sonntag ist nun auch eine Webseite online, über die Bürger in ganz Europa nach ihren lokalen Abgeordneten suchen können. Hat er oder sie ein Heimatbüro? Wie haben die einzelnen Parlamentarier bei den jüngsten Abstimmungen über Forderungen nach einer Reform der Spesenpraxis abgestimmt? Erst Ende April votierte das Parlament mit Mehrheit und auch mit den Stimmen von Union und SPD gegen mehr Kontrollen der Ausgaben aus der Kostenpauschale. Die Parlamentarier wandten sich sogar gegen stichprobenartige Prüfungen.
Jetzt, mit den Berichten in der vergangenen Woche, wächst der Druck auf das EU-Parlament. Das EU-Betrugsbekämpfungsamt Olaf kündigte sogleich an, Fälle zu prüfen, in denen Abgeordnete Miete an sich selbst zahlen. Olaf-Generaldirektor Giovanni Kessler sprach öffentlich von "strukturellen Problemen" bei den Spesenzahlungen an die Parlamentarier.
40 Millionen Euro jährlich ohne Kontrolle
Am Donnerstag versprach Parlamentspräsident Antonio Tajani "mehr Kontrollen". Kein Wunder, angesichts der Beispiele, die Journalisten quer durch Europa ausgegraben hatten. Fast 40 Millionen Euro fließen jedes Jahr aus dem Topf mit der Kostenpauschale. Doch weil es keinerlei Kontrollen gibt, ist ein Missbrauch schwer zu verhindern.
Der Abgeordnete Martin Sonneborn von der satirischen "Partei" machte sich sogar öffentlich darüber lustig, dass ihn der stern nach Belegen für seine Spesen fragte. Auf Facebook reagierte er darauf so: "Hier kommt Beleg I: Wir haben aus Spaß gerade 1000 vollkommen überflüssige T-Shirts produzieren lassen, um sie interessierten Bürgern zur Verfügung zu stellen."
Weniger spaßig war die Auskunftspolitik des rechtsextremen belgischen Abgeordneten Gerolf Annemans: Er zahlt jeden Monat 3700 Euro, nach seinen Worten für zwei Büros. Deren Adresse wollte er auf Anfrage des Magazins "Knack" aber nicht offenlegen, "aus Sicherheitsgründen".
Der litauische Abgeordnete Viktor Uspaskich gab die Zentrale seiner früheren Partei als Büroadresse an. Journalisten, die dort nachfragten, wurden wieder weggeschickt. Uspaskich habe hier kein Büro.
Europaweit bestätigten 38 Abgeordnete, dass sie Miete an ihre Partei zahlen. Einige versicherten ausdrücklich, dass die Höhe marktüblich sei und keine versteckte Parteienfinanzierung stattfinde. Ein Vertreter der linken spanischen Partei Izquierda Unida gab der Newsseite El Confidencial hingegen einfach diese Antwort: "Wir leiten die 4000 Euro einfach an die Partei weiter, und die verwalten das Geld."
3000 Euro monatlich nebenbei für Altersvorsorge
Der Linken-Abgeordnete Fabio de Masi war der einzige deutsche Abgeordnete, der dem stern seine Belege für die Verwendung der Kostenpauschale zeigte. Er habe die 4342 Euro pro Monat bisher immer vollständig ausgegeben, sagte er. Aber anders als die meisten anderen Abgeordneten unterhalte er sogar zwei Vor-Ort-Büros, eins in Hamburg und eins am Niederrhein. Wer nur ein Büro hat, dem bleibe womöglich durchaus etwas für die eigene Tasche übrig, glaubt De Masi.
Dank der Diäten und der üppigen Sitzungsgelder fließt aber auch bei ihm so viel auf das Konto, dass er jeden Monat circa 2300 Euro an die Linkspartei und einige Stiftungen spenden kann - und obendrauf noch 3000 Euro monatlich als Altersvorsorge zur Seite legt.
Während überall sonst in Europa an allen Ecken gespart wird, sind so die Spesenzahlungen im EU-Parlament bis heute überdimensioniert. Man hat es ja.
EU-Parlament will Geld nicht zurück
Der finnische Parlamentarier Hannu Takkula berichtete dem TV-Sender Yle, dass er vor zwei Jahren versucht habe, 800 Euro an das EU-Parlament zurückzuzahlen. Aber dort sei ihm gesagt worden, das sei gar nicht nötig.
Eine Parlamentssprecherin versicherte zwar, Abgeordnete könnten jederzeit Geld auf das Konto zurücküberweisen. Aber das machen nur die allerwenigsten. Der stern fragte alle 96 deutschen Abgeordneten und fand bisher keinen, der schon einmal Geld zurück überwiesen hatte. Hinter vorgehaltener Hand gestand ein Parlamentarier dem stern, dass er jedes Jahr eine fünfstellige Summe aus seinen Spesenzahlungen für wohltätige Zwecke spende - weil sein Einkommen als Abgeordnete und die Pauschalen aus seiner Sicht "relativ großzügig sind". Abgeordnete etwa von CDU und CSU antworteten offiziell hingegen unisono, es gebe nun mal "keine Verpflichtung zur Berechnung und Rückzahlung eventueller Überhänge".
EU-Parlamentarier unter Druck
Die Abgeordneten der Grünen im EU-Parlament wollen in Zukunft Überschüsse immer zurückzahlen; das beschlossen sie bereits in einer Erklärung im Frühjahr. Ähnlich will es Fabio De Masi von den Linken halten. Britische Parlamentarier der Konservativen und der Labour-Partei lassen ihre Ausgaben bereits seit längerem regelmäßig überprüfen; der Auslöser war ein Spesenskandal im heimischen Parlament in Westminster vor acht Jahren.
Nun, nach der europaweiten Welle der Enthüllungen, können auch die übrigen Parlamentarier die Kritik an ihrer Spesenpraxis nicht mehr einfach aussitzen. "Ich denke, wir müssen die Situation ändern", räumte Präsident Tajani am Donnerstag ein. Bereits zuvor hatte er angekündigt, im Juni eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die etwa die Liste erstattungsfähiger Ausgaben präzisieren solle.
Freilich griff er damit mit 13 Monaten Verspätung nur eine Forderung auf, die das Parlament bereits Ende April 2016 mit Mehrheit erhoben hatte. Die Abgeordneten forderten damals "das Präsidium nachdrücklich auf, die Liste der Kosten, die aus der allgemeinen Kostenvergütung bestritten werden können, zu überarbeiten."
Mittel für "kostspielige Garderobe"
Dass das nötig sein könnte, zeigte vergangene Woche ein Bericht des italienischen "Corriere della Sera". Deren Brüsseler Korrespondent zitierte "kompetente Quellen" im EU-Parlament, wonach es nach den gegenwärtigen Regeln durchaus erlaubt sei, die Mittel für "kostspielige Garderobe" auszugeben.
Unter dem Eindruck wachsender Kritik stimmten die Abgeordneten bereits im April 2016 mit Mehrheit auch für "eine umfassende Transparenz bei der Kostenvergütung". Das Präsidium der Volksvertretung bekam den Auftrag, "an der Definition genauerer Regeln" zu arbeiten.
Das Präsidium arbeitete damals unter dem Vorsitz des heutigen SPD-Chefs Martin Schulz - und unter seiner Führung entschied die Parlamentsspitze, die Forderung der Parlamentsmehrheit einfach zu ignorieren. Als das Parlamentspräsidium im Dezember 2016 über geplante Erhöhungen der Spesenzahlungen diskutierte, intervenierte die österreichische Grünen-Politikerin Ulrike Lunacek und erinnerte an die Mehrheitsbeschlüsse für mehr Transparenz. Sie wundere sich "über die lange Zeit der Inaktivität", sagte Lunacek laut offiziellem Protokoll. Sie forderte Schulz auf, nunmehr dem Präsidium einen Reformvorschlag vorzulegen.
Berlusconi-Freund als Saubermann?
Ausgerechnet deutsche Abgeordnete wie der FDP-Mann Alexander Graf Lambsdorff oder der CDU-Abgeordnete Rainer Wieland widersprachen sogleich. Auch Schulz wimmelte die Österreicherin ab: Das Präsidium habe es "bereits mehrmals abgelehnt", für Zahlungen aus der Kostenpauschale Belege zu verlangen. Dafür fehle einfach das Personal. Alles, was Schulz versprach, waren ein paar "Klarstellungen" der Regeln.
Die will nun offenkundig Tajani liefern. Welche Ironie: Er ist ein Weggefährte des ehemaligen italienischen Premiers Silvio Berlusconi. Durch einen Streit mit Berlusconi war Martin Schulz 2003 berühmt geworden. Jetzt - unter dem neu entstandenen öffentlichen Druck - muss sich ausgerechnet Berlusconi-Freund Tajani als der Saubermann präsentieren, der die Altlasten der Schulz-Ära aufräumt.
Nachtrag: In einer früheren Fassung des Artikels war von einer Büroadresse des österreichischen ÖVP-Abgeordneten Paul Rübig in Wels die Rede, an der sich lediglich ein Schmiedewerk seiner Familie finden ließ. In der Zwischenzeit hat Rübig auf Fragen des ORF geantwortet. Demnach hatte seine Fraktion seine Postanschrift als Ort seines Büros angegeben. Es gebe aber sehr wohl ein EU-Büro mit entsprechendem Klingelschild, in der selben Straße und ein paar Häuser weiter.